2000 · Rhinocéros · Ionesco · Vigner (DE)
Am 11. November 2000 eröffnet Vigner die Saison am CDDB-Théâtre de Lorient mit IONESCOs RHINOCÉROS (Die Nashörner). Es spielen JEAN-DAMIEN BARBIN, NATHALIE LACROIX, FRANCIS LEPLAY, JEAN-FRANÇOIS PERRIER, THOMAS ROUX, JEAN-BAPTISTE SASTRE und JUTTA JOHANNA WEISS. RHINOCÉROS war vierzig Jahre lang nicht mehr aufgeführt worden.
"Wir wissen alle, dass Kritik anscheinend unmöglich ist, dass es verschiedene Kriterien gibt, dass sich die Kriterien nicht mit dem Werk decken. Wir wissen, dass die Kritiker, wenn sie von einem literarischen Werk sprechen, in Wirklichkeit Soziologie, Geschichte, Literaturgeschichte und so weiter treiben. Dass heißt, sie stehen immer neben dem Werk, im Kontext. Der Text berührt sie kaum, obwohl er das wichtigste ist. Den Text muss man sehen, dass heißt die Einmaligkeit des Werks, da sein lebendiger Organismus, eine geschaffene Schöpfung ist; nicht den Kontext, dass heißt das Allgemeine, das Äußerliche, das Unpersönliche. Es ist mir nicht wichtig, was in diesem Werk so ist wie in andern; wichtig ist, was darin keinem andern gleicht; das heißt weder die Gesellschaft noch die Geschichte, sondern innerhalb der Geschichte und der Gesellschaft das Einmalige dieser einen Geschichte, die Geschichte dieses Werkes und keine andere. Die ganze Geschichte der Kunst ist die Geschichte ihrer Ausdrucksweise. Jedesmal, wenn eine neue Ausdruckweise auftritt, gibt es ein Ereignis, etwas geschieht, etwas Neues. Und das ist mir geblieben: die Ausdrucksweise ist Kern und Form zugleich… Nicht die Geschichte zählt, sondern vor allem, wie sie geschrieben ist, das heißt eine Geschichte muss tiefere Bedeutung haben. Literarische Berufung zeigt sich, wenn man die Erzählweise mehr schätzt als den Inhalt einer Geschichte." [1]
BEHRINGER
Es ist ganz und gar abnormal, zu leben.
JOHANN
Im Gegenteil. Nichts natürlicher. Der Beweis dafür : jeder lebt.
BEHRINGER
Die Toten sind zahlreicher als die Lebenden. Ihre Zahl wächst ständig. Die Lebenden sind selten. [2]
"Und nun, ehe wir uns dem nächsten Kapitel zuwenden, lade ich den geschätzten Leser ein, etwa zwanzig Minuten über die Identität der Gegensätze nachzudenken."
Eugène Ionesco
BEHRINGER
Wo sind die Waffen ?
DER LOGIKER
Die Logik kennt keine Grenzen !
JOHANN
In Ihnen selbst. Die eigene Willenskraft.
BEHRINGER
Welche Waffen ?
DER LOGIKER
Das werden Sie sehen...
JOHANN
Die Waffen der Geduld, der Kultur, die Waffen der Intelligenz. Werden Sie doch zum lebendigen und brillianten Geiste. Klemmen Sie sich hinter die Seite.
BEHRINGER
Wie, hinter die Seite klemmen ? [2]
"Könnte ichs doch nur wie sie! Ahh, ahh, brr! Nein, das ist es nicht. Versuchen wir es nochmal, stärker! Ahh, ahh, brr! Nein, nein das ist es nicht. Wie kraftlos knlingt das, sohne alle Kraft! Ich kann nicht schnauben. Ich grunze nur. Ahh, ahh, brr! Les hurlements ne sont pas des barrissement! Hélas, je suis un monstre, je suis un monstre. Hélas, jamais je ne deviendrai rhinocéros, jamais, jamais! Je ne peux plus changer. Je voudrais bien, je voudrais tellement, mais je ne peux pas. Je ne peux plus me voir. Je me défendrai contre tout le monde ! Contre tout le monde, je me défendrai ! je suis le dernier homme, je le resterai jusqu'au bout! Je ne capitule pas !" [3]
"Fort mit dem Bühnenbild der französischen Provinz der fünfziger Jahre, kein kleiner Markt, kein kleines Büro... Ein ausgeweidetes Nashorn liegt mitten auf der leeren Bühne, gewaltig, der Albtraum der einzigen plausiblen Figur des Stücks, Bérenger. JEAN-DAMIEN BARBIN verwandelt sein Abenteuer in eine ausschließliche Konfrontation mit der Bestie. Die anderen Zeugen seines Eindringens aber, die sich metaphorisch alle in Nashörner verwandeln, sprechen mit der sentenziösen Langsamkeit von Schatten in einem Traum. Bérenger träumt alles, was ihn umgibt, was ihn einengt."
CHRISTOPHE DESHOULIÈRES
DAISY
Und Dein Kopf, wie geht's Deinem Kopf ?
BEHRINGER
Viel besser, mein Schatz.
DAISY
Dann können wir ja Deinen Verband abnahmen. Er steht Dir nicht sehr gut.
BEHRINGER
Oh nein, nicht anfassen.
DAISY
Aber ja, nehmen wir ihn ab.
BEHRINGER
Ich fürchte, darunter ist etwas.
DAISY
Immer diese Ängste, diese schwarzen Gedanken. Siehst Du, nichts. Deine Stirn ist glatt.
BEHRINGER
Ja wirklich, Du befreist mich von meinen Komplexen. Was würde aus mir ohne Dich ?
DAISY
Ich lass Dich nie mehr allein.
BEHRINGER
Mit Dir zusammen hab ich keine Angst mehr.
DAISY
Die vertreibe ich Dir.
BEHRINGER
Wir werden zusammen Bücher lesen. [3]
BEHRINGER
Ja, ich träume... das Leben ist ein Traum. [3]
nach den Gesprächen aufgezeichnet von Claude Bonnefoy, Verlag der Arche, Zürich 1969
© Photographie: Alain Fonteray
Zusammenfassung der Texte: Jutta Johanna Weiss
Übersetzung aus dem Französischen: Herbert Kaiser
© CDDB-Théâtre de Lorient