1996 · 01 · L’illusion Comique · (Spiel der Illusionen) · Corneille · Vigner (DE)

Pridamant:
Ich wage keine Klage mehr; zu klar habt Ihr gezeigt,
wie sehr der Wert seines Berufs den meines eignen übersteigt.
Zwar trifft es zu, dass ich mich erst erregte,
weil ich dem Urteil das Theater meiner Zeit zugrundelegte;
ich wusste nicht um seinen Nutzen, Ruhm und Glanz
und tadelte es drum aus reiner Ignoranz.
Jedoch nachdem Ihr mir mit Euren Worten Mut eingeflösst,
hab ich mich mit der Angst auch von dem Vorurteil gelöst.
[1]

L'ILLUSION COMIQUE (Spiel der Illusionen), geschrieben 1636, unterscheidet sich von allen anderen dramatischen Werken des PIERRE CORNEILLE.

"Corneilles Genialität liegt in seiner Fähigkeit, sich von all den Formen des Theaters, die er kennt und beherrscht - von der Commedia dell’arte, der Komödie, der Tragödie - frei zu machen und von ihnen ausgehend ein neues Theater zu schaffen, das spätere Generationen als ‚klassisch’ bezeichnen sollten. L'ILLUSION COMIQUE steht zwischen dem alten und dem neuen Theater. Letzteres ist aber noch nicht eindeutig definiert, noch nicht ganz ausgereift, ist noch im Entstehen aus den neuen Werten - den Werten des Humanismus. Was die Architektur betrifft, beginnt das Theater, das ‚draußen’, auf der Straße spielte, ins Gebäudeinnere einzukehren. Auf geistiger Ebene wendet man sich der Unterhaltung, dem Vergnügen zu. Doch Corneille sagt: was uns interessiert, ist nicht die Unterhaltung, das Vergnügen um des Vergnügens willen, uns geht es um etwas, das vielleicht viel wichtiger ist: um den Menschen. Meine Wahl für die Eröffnung des CDDB musste auf L'ILLUSION COMIQUE fallen. Dieses Stück, besser vielleicht als jedes andere, spiegelt den schmerzlichen Übergang vom Alten zum Neuen wider, die Dualität, die das Geheimnis des Lebens, ja der ganzen Schöpfung bildet. Ich bekenne mich zu dem Glauben, dass man ohne Bindung an das Vergangene, ohne Teilhabe an der Verantwortung der Vorfahren, die man so sehr kritisiert, die Zukunft nicht erfinden kann."
ÉRIC VIGNER

Matamore:
Ich sag dir: löse dich von deinem Schrecken.
Einmal vermag ich Glut, das andre Mal Entsetzen zu erwecken.
Wie mir beliebt, erschein ich, je nachdem,
den Männern grauenvoll, den Frauen angenehm.
Solange meine Schönheit niemals von mir wich,
wurde kein Mann von ihnen so bedrängt wie ich;
die Sinne schwanden ihnen, wenn ich mich hinausbegab,
und täglich raffte ungestillte Sehnsucht Tausende ins Grab;
jede Prinzessin wollte mich zum Stelldichein gewinnen, ein Kuss von mir war höchster Traum der Königinnen;
in Japan und Äthiopien riefen kaiserliche Damen
in ihrem Liebestaumel unablässig meinen Namen.
[2]

"So also setzt sich L'ILLUSION COMIQUE mit einem ewigen Thema auseinander: mit der Beziehung zwischen Vater und Sohn, die sich selbst und einander im Spiegel des Theaters sehen, sich finden und einander vergeben. Pridamant, seit zehn Jahren ohne Nachricht von seinem Sohn Clindor, bittet den ‚Magier’ Alcandre, Clindor zu finden. Alcandre lässt vor des Vaters Augen die Vergangenheit Clindors erstehen - die Phasen seines Lebens, Personen, Schatten, Geisterhaftes und Lebendiges - all die Geschehnisse im Stück sollen zur Vergebung des Vaters führen. Der Vater muss seinem Sohn, der Sohn dem Vater vergeben - erst wenn das geschieht, wird alles möglich."
ÉV

Pridamant:
Euch Eure Werke zu belohnen, überstiege meine Möglichkeiten;
doch dafür, mir ein Wiedersehn mit meinem Sohn zu schenken,
gilt, grosser Magier, Euch für alle Zeiten mein ehrendes Gedenken.
[3]

"Man kann davon ausgehen, dass am Anfang, wenn das Spiel beginnt, nichts da ist - der erste Tag der Welt. Ein Schauspieler tritt auf und erzählt eine Geschichte, und erst jetzt beginnt etwas. Dann folgt ihm ein zweiter, folgt seinen Spuren, gräbt etwas aus, nimmt ein Thema auf, findet Spuren; ein weiterer tritt auf, und noch einer... und zu guter Letzt schafft all dies eine Erinnerung, schafft Leben, schafft Geschichte. Und morgen beginnt es von Neuem, und jeden Tag..."
ÉV

"Clindor trifft auf Matamor - eine Figur aus dem alten Theater, mit einer alten Kultur verbunden - oder ist es Matamor, der ihn trifft?- ich kann’s nicht sagen. Ein schöner Moment: dieser Austausch, der Übergang, die Selbstaufgabe. Matamor schlüpft aus seiner Rolle, legt seine Kleider ab, entkleidet sich, um Clindor seinen Platz zu überlassen. Matamor ist’s, der den berühmten Hauptmann der Commedia dell’arte getötet hat, doch damit hat er ausgedient, und er weiß es nur zu gut. Er wird zu einem Don Quijote. Der Augenblick ist gekommen, da er sich der Wirklichkeit stellen muss. L'ILLUSION COMIQUE ist der Übergang von der Illusion zur Realität. Corneille zeichnet den Weg des modernen Theaters vor, öffnet die Tür für ein Theater, wie man es in Zukunft kennen wird."
ÉV

"Was man im Rahmen der Schöpfung das Leben nennt, ist in allen Formen und Gestalten Ausfluss eines einzigen Gedankens, einer einzigen Flamme. Um all die Bilder ausschöpfen zu können, um sie um ihrer selbst willen zu lieben, wäre es ohne Zweifel erforderlich, den Psychoanalytiker neben all seinem Fachwissen auch zum Dichter auszubilden: weniger Träume des animus und mehr Träumereien der anima; weniger Augenmerk auf inter-subjektive Psychologie und mehr Sensibilität für die Psychologie der Intimität."
Gaston Bachelard [4]

Vigners Inszenierung von L'ILLUSION COMIQUE wird auf den wichtigsten französischen Bühnen gezeigt und für den MOLIÈRE Theaterpreis nominiert.

[1] PIERRE CORNEILLE, L'ILLUSION COMIQUE, 1635, Deutsch von SIMON WERLE, Verlag der Autoren 1993, Fünfter Akt, Sechste Szene
[2] PIERRE CORNEILLE, L'ILLUSION COMIQUE, 1635, Deutsch von SIMON WERLE, Verlag der Autoren 1993, Zeiter Akt, Zweiter Auftritt
[3] PIERRE CORNEILLE, L'ILLUSION COMIQUE, 1635, Deutsch von SIMON WERLE, Verlag der Autoren 1993, Acte V, Scène 5
[4] GASTON BACHELARD, DIE FLAMME EINER KERZE, Auszug in Deutsch von HERBERT KAISER
 

© Photographie: Alain Fonteray
Zusammenfassung der Texte: Jutta Johanna Weiss
Übersetzung aus dem Französischen: Herbert Kaiser
© CDDB-Théâtre de Lorient