1998 · Marion De Lorme · Hugo · Vigner (DE)
MARION
Ich tue was ich will, will aber was ich muss.
Bin ich nicht frei ?
SAVERNY
Frei ? Frei ? - Sag' mir,
Sind's jene auch, sie, deren Herzen Du
Gefesselt hältst ? [1]
"Nach der glorreichen Revolution von 1830, als das Theater im Rahmen der allgemeinen Freiheiten auch seine Freiheit errungen hatte, ‚zerschmetterten’, um mit Hiob zu sprechen, die zur Zeit der Restauration durch die Zensur lebend begrabenen Stücke ‚mit ihren Schädeln die Steine ihrer Gräber’ und verbreiteten sich in Massen und unter großem Lärm über die Pariser Theater, und das Publikum kam und bejubelte sie, noch sprachlos vor Freude und Wut. Zu Recht. Es brauchte mehrere Wochen, bis die Spuren der Zensur zur Freude aller beseitigt waren. Die Comédie-Française dachte an ‚Marion de Lorme’. Führende Persönlichkeiten des Hauses suchten den Autor auf und drängten ihn, sein Werk, dessen Verbot nun aufgehoben war, zur Aufführung freizugeben. Ihnen schien zu diesem Zeitpunkt die Schmähung Karls X im vierten Akt, um derentwillen das Stück verboten worden war, den Erfolg des Stückes auf Grund der zu erwartenden politischen Reaktion zu garantieren. Aus eben diesem Grund - wegen des wahrscheinlichen politischen Erfolges - beschloss der Autor jedoch, sein Werk wenigstens eine Zeitlang zurückzuhalten. Im Zusammenhang mit eben dieser ‚Marion de Lorme’ erinnerte er sich, dass er im Alter von sechzehn Jahren - ein Neuankömmling auf literarischem Boden, den seine Leidenschaft für Politik dorthin gebrachte hatte - auf Grund seiner politischen Einstellung, seiner politischen Illusionen, die Royalisten und die Vendée favorisiert hatte. Er dachte daran, dass er eine Krönungsode verfasst hatte - zugegeben, zu einer Zeit, als alle dem beliebten Herrscher Karl X zujubelten. Keine Zensur! Keine Hellebarden mehr! Er wollte vermeiden, dass man ihm eines Tages seine Vergangenheit würde vorwerfen können, eine Vergangenheit der Fehler, gewiss, aber doch der ehrlichen Überzeugung, des reinen Gewissens und des Fehlens jeglichen Eigeninteresses, so wie er hoffte, dass man sein ganzes Leben beurteilen würde. Er wusste, dass, was anderen zustand, ein politischer Erfolg auf Grund des Sturzes des Herrschers, für ihn persönlich untragbar war; dass ihm kein Schlupfloch offen stand, durch das er sich dem Zorn der Öffentlichkeit würde entziehen können. Er tat, was er tun musste, was jeder mutige Mann an seiner Stelle getan hätte. Er weigerte sich, der Aufführung seines Stückes zuzustimmen. Er gab zu: bewusst herbeigeführte Skandalerfolge und politische Anzüglichkeiten waren seine Sache nicht - ihre Wirkung war wenig wert und nur von kurzer Dauer. Seine Absicht war es gewesen, so gut er es als Künstler vermochte Ludwig XIII zu porträtieren und nicht einen seiner Nachfahren. Und gerade wenn es keine Zensur mehr gab, sei es um so notwendiger, dass die Autoren sich selbst zensurierten - ehrlich, gewissenhaft und mit aller Strenge. Nur so konnten sie die Würde der Kunst hochhalten. Wenn man alle Freiheiten genießt, ziemt es sich umso mehr, Maß zu halten. Heute, da uns dreihundert und fünfundsechzig Tage - also gemäß den Zeiten, in denen wir leben, dreihundert und fünfundsechzig Ereignisse - vom Sturz des Königs trennen; heute, da die Flut der öffentlichen Entrüstung nicht länger über die letzten Jahre der zerbrechenden Restauration hereinbrechen, so wie das Meer sich von verlassenen Stränden zurückzieht; heute, da Karl X mehr der Vergessenheit anheim gefallen ist als Ludwig XIII, heute übergibt der Autor sein Werk der Öffentlichkeit, und die Öffentlichkeit nimmt es so entgegen, wie der Autor es darbietet: naiv, ohne Hintergedanken, als - geglücktes oder missratenes - Kunstwerk. In dieser Zeit, da politische Überlegungen im Vordergrund stehen, bedeutet es immerhin etwas - bedeutet es viel, ja vielleicht alles -, dass eine literarische Angelegenheit als solche, und nur als solche, gesehen wird." [2]
Am 19. September 1998 bringt Vigner VICTOR HUGOs MARION DE LORME heraus, es spielen: DAVID CLAVEL, MARYSE CUPAIOLO, RODOLPHE DANA, DAMIEN DORSAZ, NADIR LEGRAND, STÉPHANE MERCOYROL, THOMAS ROUX, JEAN-YVES RUF, FRÉDÉRIC SOLUNTO, JUTTA JOHANNA WEISS und das ENSEMBLE MATHEUS: FRÉDÉRIC & CATHERINE MÜHLHAÜSER, STÉPHAN ELOFFE, FERNADO LAGE, AUDE VANACKERE, THIERRY RUNARVOT, STÉPHANE GOASGUEN. Er ging dabei von verschiedenen Skizzen aus, die aus der Zeit vor der endgültigen Veröffentlichung des Stücks im Jahre 1831 stammten. Die erste Version von MARION DE LORME, von Victor Hugo im Jahr 1829 im Alter von 29 Jahren geschrieben, wurde von der Zensur verboten und nie aufgeführt.
"Mit Ausnahme von Corneille und Racine habe ich bis jetzt Werke zeitgenössischer Autoren aufgeführt (Duras, Sarraute, Motton, Dubillard…) und dabei junge Schauspieler eingesetzt. 1997 schlug man mir vor, eine Meisterklasse mit Studierenden der Ecole Nationale de Strasbourg abzuhalten. Für diese Arbeit suchte ich einen französischen Autor, dessen Werk vor allem ‚expressionistisch’ sein sollte und bei dem die Körpersprache eine wichtige Rolle spielte. Mit dieser Zielsetzung und in Erinnerung an die Inszenierungen von LUCRÈCE BORGIA und HERNANI durch Antoine Vitez, las ich VICTOR HUGO und stieß auf MARION DE LORME. Da mich enigmatische Texte immer besonders interessieren, wuchs im Lauf der zweimonatigen Arbeit meine Lust, weiter zu gehen."
ÉRIC VIGNER
"Hugo wollte ein utopisches Theater schaffen - ein Theater, das alles will, die Sache selbst und ihr genaues Gegenteil. In dem Augenblick, da das Paradoxe in einem Stück solche Bedeutung gewinnt, stößt man auf ein Problem: wie soll man das aufführen? Die quasi-naturalistische Aufführungspraxis des 19. Jahrhunderts konnte Hugos Theater nicht gerecht werden, das vom Imaginären, Fantastischen, Symbolischen beherrscht war. Diese Art des Theaters liegt so sehr außerhalb der Norm, dass man auch heutzutage auf Versuche angewiesen ist, denn ‚das Ganze’ zu spielen ist unmöglich. Versuche haben mich immer fasziniert, mit Versuchen will ich mich auseinandersetzen. Man kann nur aufzeigen, wie dieses Theater sich aus sich selbst entwickelt, wie das Stück sich schreibt - so als hätte das romantische Theater bereits eine gewisse Form der distanzierten Abgehobenheit vorweggenommen. Bei dieser Art Theater ist der Zuschauer zur Mitarbeit aufgerufen - das Theater stellt ihm Fragen, die er beantworten muss. Hugos Theater bleibt sehr offen, lässt vieles offen: Es stellt eine Sichtweise der alten Welt vor Augen, und dessen, was die neue Welt sein könnte, und fordert die Zuschauer, sich als Einzelpersonen diesen Hypothesen zu stellen. Damit geht es um die Identität des Einzelnen im Rahmen einer Gruppe. Ich muss über meine eigene Welt entscheiden - und das umso mehr, als das romantische Theater mein Ich in den Vordergrund stellt, mein Ich in Freiheit bestätigt. Das bedeutet aber nicht, dass man zwischen der romantischen Welt und der klassischen wählen muss, denn die Romantiker wollen alles. In dieser Hinsicht ist der Werdegang von MARION DE LORME erbaulich. Ich glaube, sie erkennt ihr eigenes Ich im Herzen der Illusion, in der konkreten Erfahrung des Theaters, das sie erlebt, wenn sie die Chimène spielt. Hier fungiert das Theater als Aufdecker des Gewissens - im Sinne der Worte Hamlets: Das Schauspiel sei die Schlinge, in die den König sein Gewissen bringe."
ÉV
DIDIER
Nein, lass mich ruhig sterben, es ist gut;
Zerissen ist mein Herz, geliebte Seele,
Es würde schwer gesunden, drum ist's besser so.
MARION
O nicht doch, leben musst Du -
DIDIER
Fordre nicht
Unmögliches; es geht der Müde heim.
Umarme mich zum letztenmal, Marie.
Glaub' mir, den Toten wirst Du zwiefach lieben,
Er wird in Deines Herzens Heiligtum
Fortleben, und in der Erinnerung
Dich mehr beglücken, als im Leben; denn
Nicht ohne Schaudern mag ich daran denken,
Wieviel der Tränen ich Dir kosten würde,
Wenn ich nicht jetzt hinüberzöge in
Das stille Land der Ruh; [3]
"Die Worte, die aus diesem Schatten hervorquellen, sind nicht bloß Geschichte, auch nicht Darstellung, sie sind etwas Aktives, das direkt ins Ohr geht und Energie einhaucht. Der Zuschauer sieht, sobald er in diesen Strom hineingezogen wird, nicht mehr die Entwicklung der Personen dieses romantischen Melodrams, als das ihm Marion de Lorme noch bei der Lektüre erschien - er lässt sich von den Stimmen mitreißen, glaubt sie zu sehen, wie sie sich durch den Tüll, durch das hauchdünne Geflecht der Wörter, dringen. Im Rhythmus gefangen, skandierend, als schlage sein Herz nun außerhalb seines Körpers, erkennt er, dass Handeln nicht im ungestümen, seelenzerstörenden Vorwärtsstürmen besteht sondern darin, sich durchdringen zu lassen, sein Gesicht dem Ansturm der Sprache darzubieten. Das Seltsame - aber das wird man erst später erkennen, wenn das Spiel vorbei ist und man sich seiner erinnert, in der Stunde des Verstehens, die ihren Platz hat in der Leere, nicht im Gefühl - das Seltsame ist, dass man feststellt, wie sehr Vigner das dramatische Gedicht Wort für Wort respektiert hat, und dass dies ausreicht, um das Melodramatische ‚wegzuwischen’. Das Buch spricht leise. Wie steht es um die Szene vor dem geistigen Auge? Führt seine Zurückhaltung dazu, dass sich das Wort in seine Abstraktion hüllt, als hätten Gedanken im Körper keine Bleibe? Eric Vigners MARION führt das Theater zurück in den Mund, ja auf die Zunge, wo sich das Wort auf ganz natürliche Weise enthüllt und die Preisgabe von Silbe nach Silbe uns so tief und so schmerzlich berührt, dass alle Fesseln abfallen."
BERNARD NOËL
MARION DE LORME geht ein Jahr lang auf Tournee durch Frankreich und wird im Januar 1999 einen Monat lang im Théâtre de la Ville in Paris gespielt.
© Photographie: Alain Fonteray
Zusammenfassung der Texte: Jutta Johanna Weiss
Übersetzung aus dem Französischen: Herbert Kaiser
© CDDB-Théâtre de Lorient