1991 · La Maison d’Os · (Das Kochenhaus) · Dubillard · Vigner (DE)
"Man sollte besser so sprechen wie man möchte als wie man sollte, anderenfalls werde ich schweigen. Die Entscheidung liegt bei Ihnen." [1]
Als erstes Stück der COMPAGNIE SUZANNE M. wählt éric Vigner den Text des zeitgenössischen Dichters ROLAND DUBILLARD: LA MAISON D’OS. Die Inszenierung wird zum Manifest des künstlerischen, ästhetischen und ethischen Anspruchs, hier und jetzt Theater in Freiheit zu machen. Ein Theater fernab jeglicher ideologisch geprägter Art oder Unart der Darstellung, bar jeglichen äußeren Scheins, der immer dann triumphiert, wenn Theatermacher nur noch den Weg des geringsten Widerstandes gehen.
Uraufgeführt wurde LA MAISON D’OS 1962 in der Inszenierung von Arlette Reinerg im heute nicht mehr bestehenden Théâtre du Lutèce. Seit damals wurde das Stück nicht mehr auf die Bühne gebracht, bis éric Vigner es aufgreift und zusammen mit 20 jungen Schauspielern die Reise ins Abenteuer wagt. Er schafft es, sein erstes Werk durch den Vorverkauf zu finanzieren und es an einem ungewöhnlichen Ort aufzuführen: in einer aufgelassenen Fabrik in Issy-les-Moulineaux. Die Premiere findet am 25. Januar 1991 statt, es spielen: ODILE BOUGEARD, ÉLSA BOUCHAIN, BRUNO BOULZAGUET, CHRISTOPHE BRAULT, ARNAUD CHURIN, PHILIPPE COTTEN, MYRIAM COURCHELLE, BENOÎT DI MARCO, BENOÎT GIROS, XAVIER DE GUILLEBON, PAULINE HEMSI, PASCAL LACROIX, DENIS LÉGER-MILHAU, GAËL LESCOT, LAURENT LÉVY, FRANÇOIS MOREL, ARTHUR NAUZYCIEL, JEAN-FRANÇOIS PERRIER, GUILLAUME RANNOU, ALICE VARENNE, KARINE VUILLERMOZ und CATHERINE VUILLEZ.
"Ein enges dreistöckiges Gebäude, der ‚vertikale Raum’ - eine aufgelassene Matratzenfabrik; in der Halle im Erdgeschoß, ganz vom Theater in Besitz genommen, liest - nein entziffert - man auf dem abgeblätterten Mauerwerk die Worte ‚Rosshaar’... ‚Federn’... Die Begegnung mit diesem Ort war ein außergewöhnliches Erlebnis: es ist ein Ort voll Magie, und entspricht darüber hinaus genau dem, wovon Dubillard geträumt hatte: sein Stück sollte sich in der Vertikalen und nicht in der Horizontalen entfalten. Mich reizte es, den Zuschauern den Eindruck zu vermitteln, sich im Haus zu befinden. Oft ist das Publikum im Theater vor der Sache, vor dem Geschehen auf der Bühne. Ich will so arbeiten, dass das Publikum mitten drin, quasi Teil des Stückes ist, und genau darin liegt die Problematik der Aufführung."
ÉRIC VIGNER
Donnerstag, 6. Mai
"Was ihre bürgerlichen Trauerspiele angeht, gleicht keine Stadt Paris. Dieser Tage verstarb hier Mme X, nur eine Woche nach ihrem Gemahl. Das Haus X, über dessen finanzielle Lage nichts Genaues bekannt ist, unterhielt Pferdegespanne und zahlreiche Domestiken. Die Verblichene verschied in ihrem Bette und war – nach fünf Tagen! - noch teilweise bekleidet, da ihre Kammerfrauen sich mittlerweile mit den männlichen Bediensteten im Untergeschoss einer Orgie hingegeben hatten. Die von ihrem Leibarzt verordneten Senfpflaster waren ihr von ihrem volltrunkenen Kutscher auf – auf!! – ihre Strümpfe aufgebracht worden." Inspiriert von dieser Notiz im Journal des Goncourt (1880), handelt LA MAISON D'OS vom Leiden und Sterben eines steinreichen Alten ohne Familie im Kreise seiner etwa vierzig Personen umfassenden Dienerschaft, die sich nicht im geringsten um ihn kümmert. Das Stück (Komödie - oder doch eine Tragödie?) erscheint nicht ‘konstruiert’, doch seine Struktur ist in der Tat die eines Hauses. Will sagen, dass es sich nicht bewegt, sich nicht wie eine Symphonie oder ein Drama in der Zeit bewegt. Wenn das Stück eine Zeitlang dauert, so deshalb, weil alles seine Zeit braucht (auch ein Bild zu betrachten oder einer Ruine einen Besuch abzustatten). Die Handlung (oder auch Nicht-Handlung) findet in einem schäbig gewordenen, abgeschiedenen Haus statt, in einem Haus, das sich aufgegeben hat, wie sich auch seine Bewohner selbst und einander aufgegeben haben; das Leben spielt sich hier vor allem in einem vertikalen Raum ab, vom Keller bis zum Speicher. Die Beziehungen zwischen dem Hausherrn und seiner Dienerschaft (einschließlich der Ärzte, Priester und Advokaten), zwischen den Domestiken untereinander, dem Hausherrn und sich selbst – und seinem Tod – und schlussendlich zwischen den Steinen und Balken des Hauses – diese Beziehungen sind zahlreich und unterschiedlich genug, um dem reglosen Gebäude den Anschein einer Bewegung zu geben, so wie ein Leichnam von Würmern wimmelt. Das Thema ist nicht makaberer als die Thematik mancher klassischer Stücke. Trotz allem ist LA MAISON D'OS dem Leben – ja sogar dem Spass – zugewandt. Der Autor versichert, er habe darin keineswegs eine Philosophie verstecken wollen."
Roland Dubillard, 1962
DIENERIN: Was willst du ?
Der Diener antwortet nicht.
Oh !... Wie alt bist du ? (keine Antwort)
Sag einmal, was hast du ? Was bist du eigentlich ? Was bist du in dieser alten Kiste ? Sag doch ! Und wieviel zahlt dir der Herr ? Du bist nichts, Nichts, hörst Du ?!
DER DIENER: Und du ? [1]
DER HERR: Mein Haus. Ich will, dass man mir mein Haus gibt. Ich habe es nicht. Ich bin drinnen. Das Draußen – davon haben wir noch eine zusammenhängende Idee, aber im Inneren herrscht die reinste Inkohärenz. Ich sehe nichts. Ich weiß, dass ich hier entlang gehen muss, wenn ich in das große Harmoniumzimmer will, aber das ist reine Gewohnheit, auch ein Blinder könnte das mühelos. Was ich will, ist mich drinnen in meinem Haus so zu finden, wie es ist. Ganz wie es ist.
DER DIENER: Monsieur wird mir gestatten, Monsieur zu versichern, dass ich keinen Menschen kenne, der sich nicht in der gleichen Lage befindet wie Monsieur. Das Innere von irgendetwas – sobald man hineingeht, Monsieur, kann man die Sache nicht mehr von außen betrachten. [1]
Die Regiearbeit ÉRIC VIGNERS zeugt von seiner großen Begabung als Illusionist, setzt Raum in Bewegung und zeigt eine Anpassungsfähigkeit und Kreativität im Dienste eines außergewöhnlichen Textes, das ‚Außen’ und das ‚Innen’ von Häusern und Menschen, die sehnsuchtsvolle Erinnerung an die Kindheit, die Angst vor dem Sein, eine wahre Forschungsreise in den ‚inneren Raum’. LA MAISON D’OS feiert einen großen Erfolg und wird noch im selben Jahr im Rahmen des Festival d’Automne (Pariser Herbstfestival) in der Weiträumigkeit der Grande Arche de la Défense in Paris zu neuem Leben erweckt.
"In Issy-les-Moulineaux schufen die maroden Mauern und die eisige Kälte eine Weltuntergangsstimmung wie zu Ende des 19. Jahrhunderts. Im Untergeschoß der Grande Arche de la Défense, wo alles hygienisch sauber und weithin offen ist, geht die Welt am Ende des 20. Jahrhunderts unter. Aus Stein in Issy wurde Wasser in la Défense, das ‚Knochenhaus’ zu einer Arche Noah. Das Publikum sitzt in leichter Schräge, wie auf einem Schiff, das sich anschickt unterzugehen. Es ist alles eine Frage des Raumes."
ÉV
Übersetzung der Auszüge aus dem Französischen von HERBERT KAISER
© Photographie: Alain Fonteray
Zusammenfassung der Texte: Jutta Johanna Weiss
Übersetzung aus dem Französischen: Herbert Kaiser, Mag. Birgitt Csoklich
© CDDB-Théâtre de Lorient