1995 · Bajazet · Racine · Vigner (DE)

Entschliesst Euch denn nun und beginnt Euern Lauf
In dem Felde des Ruhmes: ich tat es Euch auf. [1]

Mit BAJAZET von JEAN RACINE, folgt ÉRIC VIGNER einer Einladung von JEAN-PIERRE MIQUEL an die Comédie-Française und inszeniert am 9. Mai 1995 erstmals am ‚kleinen Haus Molières’, dem Théâtre du Vieux Colombier. Es spielen MARTINE CHEVALLIER, JEAN DAUTREMAY, BÉRANGÈRE DAUTUN, ISABELLE GARDIEN, ALAIN LENGLET, ÉRIC RUF, VÉRONIQUE VELLA.

"Ich strebte kein analytisches Vorgehen an - keine Psychoanalyse, keine politische noch etwa psychologische Analyse. Ich versuchte nicht, die Kluft zwischen der tragischen Kunst und uns modernen Menschen zu schließen. Roland Barthes sagte ganz richtig, die Tragödie berühre uns gerade wegen der Distanz, aus der wir sie erleben. Ich verhielt mich dieser Tragödie gegenüber wie Champollion beim Studium der Hieroglyphen. Wie kann man diese uns so fremde Sprache spielen? Indem man spielt, was der Text sagt, nicht mehr und nicht weniger. Racines Verse sagen alles aus. Der Dichter Racine ist es, der mich interessiert. Mir ging es nicht um die Frage ‚Warum hat Racine Bajazet geschrieben?’ sondern ‚Wie?’ Ich betrachtete das Werk als ein dramatisches Gedicht, und in einem dramatischen Gedicht steht nur Eines im Vordergrund: der Alexandriner." EV

BAJAZET war RACINEs sechstes Stück. Nach der triumphalen Aufnahme seiner elegischen BÉRÉNICE, in der er heftig auf der Zuschauer Tränendrüsen drückte, wollte Racine beweisen, aus welchem Holz er geschnitzt war. Der Stoff von BAJAZET, seiner blutigsten und sinnlichsten Tragödie, stammt aus der türkischen Geschichte. Das Stück spielt in Byzanz, der Hauptstadt des Osmanischen Reichs, im Serail des Sultans Amurat.

ROXANE
Doch bedenkt Ihr, dass, wenn Ihr mir jetzt widerstrebt,
Ihr Euch in weit grössere Gefahren begebt,
Dass die Tür des Palastes, die mir unterstellt,
Sich Euch schliesst oder öffnet, wie mir es gefällt,
Dass, wollt' ich es so, Euch das Leben nicht bliebe
Und dass Ihr nur atmet, solang' ich Euch liebe ?
Kurz: schmähet Ihr jetzt diese Liebe sehr,
Sovergesst es nicht: ohne sie wärt Ihr nicht mehr !

BAJAZET
Ja, von Euch hab' ich alles und durfte wohl meinen,
Es müsse als köstlicher Ruhm Euch erscheinen,
Das Reich mir zu Füssen liegen zu sehn
Und mich meine Dankbarkeit hören gestehn.
Ich werde Euch immer als Retterin preisen.
Meine Ehrfurcht wird's unaufhörlich beweisen.
Euch schuld' ich mein Blut: Euch gehört all mein Sein.
Aber wollt Ihr zuletzt...

ROXANE
Ich will nichts mehr, nein.[1]

"Éric Vigner stellt sich seiner Aufgabe, indem er auf Faszination und Langsamkeit setzt. Die Atmosphäre, die er schafft - eher japanisch als byzantinisch - dient als Gefäß, aus dem das erbarmungslose Gold des Textes wie Lava aus dem Mund der Schauspieler strömt. Nichts da, Heroismus! Nichts da, Ihr Propheten! Keine schicksalsschwere Spannung zwischen aristokratischer Anmaßung und Zärtlichkeit, zwischen Natur und den hohen Werten des Althergebrachten, wie etwa bei Corneille. Bei Racine verschmelzen die ehrwürdigen Elemente der traditionellen Tragödie und werden, in einer neuen und entschlackten Sprache, zu einem Amalgam der neuen Dichtung. Seine ‚Personen’ leben nur auf dem Papier, nicht im Realen. Roxane ist nur ein Name und eine Stimme. Und doch lässt der göttliche Poet ihren Marmorlippen einen wundersamen Seufzer entschlüpfen. Jeder spricht von sich selbst, als wäre er ein anderer, und wenn einer es wagt, Stille eintreten zu lassen, so ist’s, weil ohne die Pause, die der Alexandriner verlangt, der Schmerz unerträglich wäre. Auszusprechen, was uns quält, hilft nicht. Racine heilt nicht, er beruhigt: eine kühle Hand auf heißer Stirn." 
FrÉdÉric Ferney, Le Figaro, 16. Mai 1995

[1] Jean Racine, Bajazet, 1672, Zweiter Aufzug, Nachdichtung von Wilhelm Willige

 

© Photographie: Alain Fonteray
Zusammenfassung der Texte: Jutta Johanna Weiss
Übersetzung aus dem Französischen: Herbert Kaiser
© CDDB-Théâtre de Lorient