2010 · Le Barbier de Séville · (Der Barbier von Sevilla) · Beaumarchais · Vigner (DE)
Die Küste Albaniens, des Landes am Adriatischen Meer, war es, wo ÉRIC VIGNER im April 2007 den Anker auswarf. Genauer gesagt in Tirana, einer 1614 von osmanischen General Süleyman Pascha gegründeten Stadt. Das Land ist im Begriff, nach 50 Jahren der Tyrannei, der zwangsweisen Isolation, der Beschränkung auf sich selbst, der Abschottung vom Leben der anderen, wieder zu sich selbst zu finden. Der Besuch dieses von den Einflüssen des Westens fast völlig unberührten Landes führt den Regisseur in die Berge, von denen schwarzgekleidete Frauen herabsteigen, ans Meer, wo die in den Hafen zurückkehrenden Fischer polyphone Gesänge anstimmen, in die Stadt Shkodra, wo ein unermesslich reicher Schatz bewahrt wird: die Photographien der MARUBI - dreier Generationen von Photographen, die das osmanische Albanien zu Beginn des vorigen Jahrhunderts in Szene gesetzt und eingefangen haben.
Durch eine Photographie von MYRTO DANI inspiriert, beschließt Éric Vigner, für das Nationaltheater von Tirana, der Stadt, in der das Land soeben eine eigene Revolution durchlebt hat, eine Adaptation des BARBIER VON SEVILLA mit Beaumarchais Figaro als Vorboten der Französischen Revolution und mit Anklängen an Albaniens Geschichte zu schaffen.
"Auf dieser Schwarzweißphotographie sieht man zwei albanische Offiziere, rechts und links von einem Tischchen sitzend, vor einem gemalten Hintergrund, wie ein gespiegeltes Bild. Es könnte sich um Zwillinge handeln, um zwei Freunde, zwei Brüder. Sie tragen die traditionellen weißen Röcke und darüber reich verzierte Uniformjacken. So sind sie auf dem Photo dargestellt – doch kann man das Bild auch ganz anders sehen: achtet man auf die Komposition, so erscheint es wie eine reine Abstraktion mit Kontrasten von hell und dunkel, fast vollkommen symmetrisch wie ein Rorschachtest."
ÉRIC VIGNER
"DER BARBIER VON SEVILLA, OTHELLO, IN THE SOLITUDE OF COTTON FIELDS (IN DER EINSAMKEIT DER BAUMWOLLFELDER), - diese drei Stücke folgen auf einander. Ihre Themen sind verwandt – der BARBIER ist eine Komödie der Eifersucht, OTHELLO die Tragödie der Eifersucht. Zwischen ihnen steht LA SOLITUDE. In jedem dieser Texte geht es um den ‘blinden Fleck’ und um ein Paradoxon: Die Verneinung der Außenwelt durch Bartolo, die Verneinung der Begierde beim Kunden in LA SOLITUDE, die den Dealer schlussendlich dazu bringt, die Waffe als letzten Ausweg vorzuschlagen, und zu guter Letzt der blinde Fleck OTHELLOs, der ihn seiner Liebe zu Desdemona gewahr werden lässt und ihn dazu führt, das Objekt eben dieser Liebe zu töten. Man erkennt nur allzu gut, wie sich der blinde Fleck vom BARBIER über LA SOLITUDE bis zu OTHELLO erstreckt und – wie ein schwarzes Loch – die Story verschlingt."
ÉV
BARTHOLO. Was hältst du denn da für ein Papier ?
ROSINE. Couplets aus "Die unnütze Vorsicht". Mein Gesangslehrer hat sie mir zum singen dagelassen.
BARTHOLO. Was ist das "Die unnütze Vorsicht" ?
ROSINE. Ein neuer Schwank.
BARTHOLO. Irgend solch Theaterstück ! Irgend solche moderne Dummheit !... Ein barbarisches Jahrhundert !
ROSINE. Immer schimpfen Sie auf unser armes Jahrhundert !
BARTHOLO. Was hat es aber hervorgebracht, was man loben könnte ? Lauter Dummheiten: Gedankenfreiheit, Anziehungskraft, Elektrizität, Enzyklopädien und Dramen... [1]
"Das französische Wort für Eifersucht - jalousie - hat eine zweite Bedeutung (die ja auch ins Deutsche übernommen wurde): die Jalousie als Element der Innenarchitektur, das es gestattet, zu sehen ohne gesehen zu werden. Die Jalousie - wie auch die Eifersucht - trennt und widerspiegelt - Licht und Schatten, Inneres und Äußeres. Beim BARBIER hat sie die Form eines ausgedehnten Gewebes aus Spitze, mit Löchern und dunklen Stellen, durch welche die Personen der Handlung stürzen: Schwarze Löcher in jeder Inszenierung, Stürze in die Auflösung. Die Eifersucht/Jalousie ist das Rorschach-Faltbild - sie trennt identische Spiegelbilder ein und desselben: bei OTHELLO die tragische, beim BARBIER die komische Seite einer Liebesgeschichte, die, in verschärfter Form (in LA SOLITUDE), zum Tode führt. Die drei Bühnenwerke sind eine Abwandlung der Photographie der MARUBI."
ÉV
"Das Theater, das mich interessiert und und dem ich mich widme, ist eines, in das der Zuschauer sich selbst projizieren kann, in dem er sich in aller Freiheit selbst neu erfinden kann. Das Theater ist für mich nicht ein Ort, wo man hingeht um Antworten zu finden, sondern einer, an dem man Geschichten wiedererleben kann – unsere Geschichten, geheime, vergessene. Damit der Zuschauer Zugang zu unbekannten – das heißt von ihm vergessenen - Dingen finden kann, muss das Theater in sich selbst seinen Doppelgänger, sein Paradoxon enthalten: es muss etwas sein und gleichzeitig etwas anderes. Wenn zum Beispiel CÉZANNE Äpfel malt und sagt, ‘Mit einem Apfel will ich Paris zum Staunen bringen’, so ist sein Sujet nicht der Apfel, sein Sujet ist das Gemälde selbst. Mit dem Theater ist es ähnlich: woran wir uns anhalten ist nicht die Geschichte, sondern das Theater selbst."
ÉV
© Photographie: Alain Fonteray, Marubi
Zusammenfassung der Texte: Jutta Johanna Weiss
Übersetzung aus dem Französischen: Herbert Kaiser
© CDDB-Théâtre de Lorient