1999 · L’École des femmes · Molière · Vigner (DE)

Vigner wird zum zweiten Mal von der Comédie-Française eingeladen, Regie zu führen. Am 25. September 1999 bringt er zur Eröffnung der Spielzeit Salle Richelieus MOLIÈREs L'ÉCOLE DES FEMMES heraus. Er stützt sich dabei auf große Schauspieler aus dem Ensemble: CATHERINE SAMIE, IGOR TYCZKA, LAURENT REY, ROGER MOLLIEN, JEAN-CLAUDE DROUOT, JACQUES POIX-TERRIER, darunter Künstler, mit denen er schon früher gearbeitet hat, wie BRUNO RAFFAELLI für REVIENS À TOI (ENCORE) und ÉRIC RUF für BAJAZET. Die Rolle der Agnès vertraut er JOHANNA KORTHALS-ALTES an, einer jungen Schauspielerin aus dem Conservatoire. Es spielen die Musiker VINCENT THOMAS, SÉBASTIEN SUREL und CHRISTINE FONLUPT.

"EINE SZENE SPIELEN HEISST ZUNÄCHST SIE SPRECHEN."
LOUIS JOUVET

L'ÉCOLE DES FEMMES (Die Schule der Frauen), MOLIÈREs achtes Stück, ist seine erste große Verskomödie in fünf Akten. Sie wurde 1662 am Theater des Palais-Royal uraufgeführt. Die Reaktionen damals waren unterschiedlich - der Streit um ‚Die Schule der Frauen’ ist in die Literaturgeschichte eingegangen. Zuletzt war das Stück an der Comédie-Française 1983 aufgeführt worden. Vigners Inszenierung ist anspruchsvoll und bietet eine außergewöhnliche Interpretation von Molières Text.

"Zur Zeit der Aufführung von MARION DE LORME gestand Bernard Noël seinem Publikum, er sei äußerst pessimistisch, er fügte hinzu: ‚wenn etwas die Welt retten kann, dann ist es die Diktion...’ Lacans Texte über DIE SCHULE DER FRAUEN gehören zum Besten, was je darüber geschrieben wurde. Er sagt, dass DIE SCHULE DER FRAUEN das Manifest der klassischen Komödie schlechthin sei, die Spitze der Pyramide, und dass das romantische Theater - Victor Hugo - den ‚Tod’ der klassischen Komödie bedeutete. MARION DE LORME spielt im 17. Jahrhundert, der Geburtsstunde des klassischen Theaters, und der Vater der klassischen Tragödie war Corneille. DIE SCHULE DER FRAUEN machte Molière zum Meister der klassischen Komödie. Der legendäre Konflikt um DIE SCHULE DER FRAUEN war auf diesen Unterschied in der politischen und künstlerischen Einstellung zurückzuführen. Racine verdankte alles Molière, aber er schrieb perfektes Theater, ein gleichseitiges Dreieck. Doch Vollkommenheit gibt es nicht. Molières Theater verbindet Intelligenz mit dem Genie der Konstruktion und mit Emotionen. Und darum geht es in der Geschichte von Arnolphe und warum er am Ende des Stücks resigniert. Arnolphe ist ein Humanist des 17. Jahrhunderts, der den Menschen zum Zentrum des Universums macht. Am Ende überlässt er sogar sein Geschöpf, Agnès, dem jungen Horace. Wie er Agnès zur Frau gemacht hat, macht er Horace zum Mann. Nach Vollendung seines Werks, zieht er sich zurück. Molière macht mit Racine, was Arnolphe mit Horace gemacht hat. Und Horace ist kein Mann des großen Gefühls. Vielleicht ist er der bessere Geschichtenerzähler, aber er hat kein Herz. Ein Vorbote des Don Juan. Und bald soll Agnès zu Célimène werden. DIE SCHULE DER FRAUEN beinhaltet das gesamte Lebenswerk Molières."
EV

"Ihr sanfter Ernst, inmitten andrer Kinder,
Flößte mir Liebe ein, sie war erst vier." [1]

"Damit beginnt alles. Am Anfang steht die Liebe. Arnolphe begegnet der Liebe, an jenem Tag vor dreizehn Jahren, als er in einer Schar von Kindern ein kleines Mädchen wahrnimmt und dieses neue - ihm völlig unbekannte - Gefühl, diese überwältigende Erfahrung, wird für ihn zum Fundament einer Traumwelt - einer ganzen Stadt, mit Gesetzen und Vorschriften, einer Schule... Arnolphes Vision ist ein höchst persönliches, individuelles Utopia exemplarischer Natur. Eingedenk des Satzes ‚ich denke, also bin ich’ zieht Arnolphe Agnès fernab vom Getriebe der Welt auf, in einer in sich geschlossenen Welt, um sie auf die Freiheit des Seins vorzubereiten. Er liebt Agnès wie Gott seine Schöpfung liebt, und Agnès liebt ihn wie einen Vater. Horace wiederum repräsentiert die Außenwelt. Wenn er in diese geschlossene Welt eindringt, bricht er sie auf: Begierde dringt in diese Welt ein, das Wesen der Liebe ändert sich. Arnolphe sieht Agnès nicht länger als Kind, er sieht sie als Frau. Das Paradoxon des Arnolphe besteht darin, dass ihm sein Plan gerade deshalb entgleitet, weil er ganz und gar gelingt - er kann die Frau nicht heiraten, die er geschaffen hat. Um seinem Werk in der realen Welt Gültigkeit zu verleihen, gibt er sie Horace zur Ehefrau. Agnès öffnet ihm somit das Tor zurück in die reale Welt. Wie Agnès zur Frau wird, wird Arnolphe - der Herr, der Schöpfergott - zum Menschen. Wir erleben die Geburt eines Menschen."
EV

ARNULF
Kommt, Schöne, kommt herbei,
Die sich nicht halten lässt und sinnt auf Meuterei !
Seht Euch Buhlen dort und macht zur Trostbezeugung
Ihm voller Höflichkeit 'ne zierliche Verbeugung. Ade.
Der Ausgang ist nicht ganz, was Ihr gedacht;
Doch wird's Verliebten ja nicht stets nach Wunsch gemacht
. [2]

"Mit seiner Inszenierung legt Eric Vigner zunächst den Text bloß, indem er die der Sprache innewohnende Interpunktion sucht, den Sprachrhythmus, der die Körper bewegt, und führt im Gewand einer Komödie die Irrungen und Wirrungen der Kindheit und der Liebe vor. Im Rhythmus eines musikalischen Trios zeigt sich uns ein Molière, dessen Klangnuancen sich aus einer faszinierenden Mischung, einem Verschmelzen von Sprache und Hören, entwickeln."
JEAN CHOLLET, ACTUALITÉ DE LA SCÉNOGRAPHIE, Oktober 1999

"Das Wesentliche an Vigners Arbeit ist seine Fähigkeit, nicht nur Molière sondern auch sein Echo zu Gehör zu bringen."
RenÉ Solis (LibÉration, le 30 septembre 1999)

Von 1993 bis 1999 erschafft Eric Vigner seine Bühnenräume in Zusammenarbeit mit dem Bühnenbildner Claude Chestier. Ab 2000 kehrt Vigner zu seiner ersten Berufung, der bildenden Kunst, zurück und bestätigt seine Theaterarbeit als Gesamtkunstwerk im eigenen Raum.

[1] MOLIÈRE, L'ÉCOLE DES FEMMES (DIE SCHULE DER FRAUEN), 1662, 1. Aufzug, 1. Auftritt, Deutsch von MONIKA FAHRENBACH-WACHENDORFF
[2] MOLIÈRE, L'ÉCOLE DES FEMMES (DIE SCHULE DER FRAUEN), 1662, 5. Aufzug, Neunte Szene, Deutsch von RUDOLF ALEXANDER SCHRÖDER

 

© Photographie: Alain Fonteray
Zusammenfassung der Texte: Jutta Johanna Weiss
Übersetzung aus dem Französischen: Herbert Kaiser
© CDDB-Théâtre de Lorient