2010 · L'Académie · Vigner (DE)
"Jeder Ort geht in Ordnung solang es der Ort ist, durch den man hereingekommen ist."
ROLAND DUBILLARD
Am Anfang - wir schreiben das Jahr 1986 - stehen Worte. Zunächst jene von Corneille, als Éric Vigner, Student am Conservatoire de Paris (CNSAD) mit sieben Jahrgangskollegen La Place Royale inszeniert. Dann, 1991, die Worte von Roland Dubillard, dessen La Maison d'Os etwa zwanzig junge Schauspieler in einer aufgelassenen Fabrikshalle in Issy-les-Moulineaux aufführen und damit die Compagnie SUZANNE M. gründen. Und schließlich im Jahr 1993 jene Worte, die Marguerite Duras den "brothers and sisters" in La Pluie d'Été in den Mund legt und damit die Atmosphäre auf der Bühne des Conservatoire de Paris aufheizt. Éric Vigner macht Theater mit den Worten von Corneille, Dubillard und Duras.
Und der Ort des Geschehens. Eine Stadt: Lorient. Ein Anruf aus dem Kulturministerium im Jahr 1994, während La pluie d’été in Moskau läuft, mit dem Angebot, Vigner solle die Leitung eines Theaters in der Bretagne, wo er geboren ist, übernehmen. Er nimmt an und wird 1996 sesshaft in der Stadt, die der französiche Staat als Sitz der zweiten Compagnie des Indes Orientales gegründet hatte, um von dort aus mit der ganzen Welt Handel zu treiben. Von diesem Seehafen aus trägt Vigner Molière nach Südkorea, Beaumarchais nach Albanien, Koltès in die Vereinigten Staaten, und in diesen Hafen bringt er Schätze fremdsprachigen Theaters zurück, bereichert durch seine Erfahrung im Fernen Osten, am Balkan und jenseits des Atlantiks. Die Fremdheit der Sprachen, oft dem gegenseitigen Verständnis hinderlich, wird zum Trumpf, zum Glücksfall. Mit den Worten MOLIÈREs auf Koreanisch, jenen von BEAUMARCHAIS auf Albanisch, mit den Worten von KOLTÈS auf Amerikanisch macht Éric Vigner Theater.
"Was für ein Theater der Zukunft? Welche Formen sind zu finden, um die Menschen zu erreichen?"
ÉRIC VIGNER
Am 3. Oktober 2010 gründet ÉRIC VIGNER die ACADÉMIE in Lorient. Er versammelt hier junge Schauspieler verschiedener Kulturen, unterschiedlicher Sprachen und Hautfarbe. Ziel ist es, ihnen die Liebe zum Wort, zum Buch zu vermitteln, die Kunst des Schauspielers, die auf dem Lesen und in-Sprache-Kleiden beruht. Am klassischen französischen Theater aus zeitgenössischer Sicht zu arbeiten, an Corneille, Smith und Honoré. Und zu spielen. Sieben Schauspieler aus sieben Ländern - Marokko, Rumänien, Mali, Belgien, Südkorea, Deutschland, Israel - bilden diese Theaterakademie als Abbild der Jugend der Welt. Ihre Namen: HYUNJOO LEE, NICO ROGNER, VLAD CHIRITA, EYE HAIDARA, TOMMY MILLIOT, LAHCEN ELMAZOUZI, ISAÏE SULTAN. Sie werden in Lorient drei Jahre lang tätig sein.
"Diese sieben Söldner des Theaters stehen, in ganz poetischer Weise, für die 'Jugend der Welt' in all ihrer kulturellen Vielfalt. Für mich ist es ganz wesentlich, dass das Théâtre de Lorient Heimat für langfristig an das Haus gebundene, noch dazu kosmopolitische Schauspieler wird, die in französischer Sprache an einem 'Kunsttheater' arbeiten, und dies im Geiste des Austauschs ihrer Kenntnisse und Erfahrungen, die sich von ihrer Unterschiedlichkeit herleiten. Es ist der Geist dieser Hafenstadt am Atlantik, ihr geschichtlicher Hintergrund, der mich bewogen hat, auf dem Weg über das Theater in diesen 'Handel' mit der übrigen Welt einzutreten."
ÉRIC VIGNER
Die Académie ist ein Ort des Experimentierens, der Übertragung und der Produktion zugleich. Sie strebt danach, jener Dynamik der Begegnung Dauerhaftigkeit zu verleihen, die Éric Vigner durch alle Phasen seiner Laufbahn zu eigen war, und konfrontiert die Sprache und die Erfahrungen jedes einzelnen Teilnehmers mit den einander überschneidenden Sichtweisen der Klassik und der zeitgenössischen Literatur. Noch vor der Inszenierung von La Faculté im Jahr 2012, einem Stück, das Christophe Honoré für Éric Vigner geschrieben hat, spielt die Académie ab 3. Oktober 2011 in Lorient und auf Tournée Pierre Corneilles La Place Royale und Guantanamo von Frank Smith.
"Der Rahmen ist geschaffen für ein Ensemble von Schauspielern aus verschiedenen Ländern, mit verschiedenen Sichtweisen, die längere Zeit zusammenarbeiten sollen - wenn auch weniger lang als seinerzeit Platons Schüler in dessen Akademie: Nehmen Sie Aristoteles, der zwanzig Jahre blieb, oder auch das in Platons 'Politeia' dargestellte Bildungsprogramm, demzufolge das Studium der Dialektik wohl kaum vor dem fünfzigsten Lebensjahr abgeschlossen werden konnte, wobei nur die zähesten unter seinen Schülern unter Umständen das Ziel ihres jahrelangen Strebens erreichten: die Vision des Guten. Uns bleibt nur abzuwarten, wie sich die Arbeit der neuen Akademie auswirken wird - auf den Vers, auf Alidors Geisteshaltung, auf Angéliques 'reine Liebe', auf die Strenge des Gesetzes und die Macht der Lust, auf zärtliche Gefühle, die einzugestehen oft schwerer fiel als das Eingeständnis ach so verpönter sexueller Wünsche, auf die Bereitschaft zur Selbstbeherrschung und die Gefühlskälte anderen gegenüber. Eines ist jedoch klar: Das Überschreiten der Grenzen zwischen Stilen, Fragestellungen, Beunruhigungen, die Begegnung dieser jungen Menschen in ihrem gemeinsamen Arbeiten an Texten, die so viele Fragen aufwerfen, wird wohl eine ähnliche Wirkung haben wie das Aufeinanderprallen der Steine, das in Platons Metapher die Voraussetzung für die Entstehung des Wahrheitsfunkens ist. Der Name, den die Akademie für diesen Prozess aus der Praxis des Dialogs ableitete, gibt Zeugnis von Platons Genie: Dialektik."
JEAN-CLAUDE MONOD, Forschunsgbeauftragter am CNRS Lehrer an der 'École normale supérieure' (Paris)
"Kein Zutritt für der Geometrie Unkundige."
PLATON (385 v. Chr.)
"Diese Académie kann sich nur im Laufe der Zeit entwickeln, in dem Maße, in dem ihre Mitglieder einander näherkommen, denn eben darum geht es: um ein sich Austauschen, um gemeinsame Wünsche, gemeinsames Bauen - innerhalb einer vorgegebenen Zeit, aber vielleicht auch darüber hinaus. Die Schauspieler sind es, die das eigentliche Wesen der Académie ausmachen. Sie werden selbst Verantwortung für ihr Ensemble übernehmen müssen, denn ihre Aufgabe ist es nicht nur, einfach Schauspieler zu sein, sondern auch darüber nachzudenken, was das Theater von heute, das Theater des einundzwanzigsten Jahrhunderts, bedeutet und vor allem, wie man darangehen muss, es zu gestalten. Das Ensemble wird eine Arbeitsweise entwickeln müssen, die weit über das bloße Führen von Darstellern auf der Bühne hinausgeht. Die Mitglieder der Académie müssen lernen, sich selbst zu führen und im Rahmen einer selbst entwickelten Methode ihre persönliche Freiheit zu erreichen."
TOMMY MILLIOT, Auszug aus dem Journal de l'Académie.
© Photographie: Alain Fonteray
Zusammenfassung der Texte: Jutta Johanna Weiss
Übersetzung aus dem Französischen: Herbert Kaiser
© CDDB-Théâtre de Lorient