2006 · Pluie d’été à Hiroshima · Duras · Vigner (DE)

"Wenn Sie so wollen, ist der Text ein Haus. Das Haus - das ist das Buch, das, was geschrieben steht. Und meine Inszenierung baue ich, Schritt für Schritt, in diesem Haus auf." [1]

Im Jahr 1993 war Marguerite Duras gekommen, um LA PLUIE D’ÉTÉ (SOMMERREGEN) zu sehen, von Eric Vigner zum ersten Mal auf die Bühne gebracht. Aus Freude und Gefallen an der Aufführung, schenkte sie ihm damals das Drehbuch von HIROSHIMA MON AMOUR (HIROSHIMA MEINE LIEBE)

Zehn Jahre ist es nun schon her, dass Marguerite Duras von uns gegangen ist, zehn Jahre in denen Vigner nie aufgehört hat, sich ihrem Lebenswerk zu widmen (Lesung von HIROSHIMA MON AMOUR mit Valérie Dréville, LA DOULEUR mit Anne Brochet und Bénédicte Vigner, LA BÊTE DANS LA JUNGLE mit Jean-Damien Barbien und Jutta Johanna Weiss, der Eintritt SAVANNAH BAYs in das Repertoire der Comédie-Française mit Catherine Hiegel und Catherine Samie). Zum Andenken an Duras und zur Feier der zehn Jahre an der Leitung des CDDB, greift Vigner auf das Geschenk zurück, das ihm die Duras gemacht hat: das Drehbuch von HIROSHIMA MON AMOUR und schlägt die Brücke zum Schlüsseltext seiner Anfänge, LA PLUIE D’ÉTÉ. So entsteht PLUIE D’ÉTÉ À HIROSHIMA.

DAS KARMELITERKLOSTER FÜR MARGUERITE

Seit 1967 wird das aufgelassene Kloster, unmittelbar neben der Karmeliterkirche aus dem 14. Jahrhundert, als Spielort für das Festival von Avignon genutzt, bisher jedoch stets so, dass das Publikum frontal der Bühne gegenüber sitzt. Auf der Suche nach geeigneten Spielstätten war Vigner von der Architektur des Kreuzganges beeindruckt - seiner meditativen Atmosphäre, seiner Öffnung zum Himmel. Seine Raumaufteilung für 2006 stellt eine Premiere dar.

Mit PLUIE D’ÉTÉ À HIROSHIMA lädt Eric Vigner zu einer Reise durch das Werk der Duras, anhand zweier Geschichten, die zum Schönsten gehören das sie geschrieben hat. Liebe, Tod, Verlangen, Erinnerung und Vergessen sind Fäden, aus denen sich der magische Stoff von Erzählung zu Erzählung webt, aus einer Hand, ein und derselben ‚Handschrift’.

"Wenn ich mich vor einiger Zeit dazu entschlossen habe, mich der Regie zu widmen, so war der Grund dafür, dass ich das Publikum physisch in das Geschehen einbeziehen wollte, um ihm das nahezubringen, was der Prozess des Schreibens schafft. Ich mache Theater auf der Grundlage der imaginativen Kraft des Textes – ein Prozess, der der Poesie nahekommt."
ÉRIC VIGNER

Was die Duras hinterlassen hat, ist unter anderem ihre Fähigkeit, ihre eigenen Werke immer wieder neu zu bearbeiten, und sie der Nachwelt als eine ‚Möglichkeit’ darzubieten. Sie schreibt in Form von Büchern, Romanen, Theaterstücken, Drehbüchern, sie schreibt auch wenn sie filmt... Sie ist nicht mehr, doch ihr Werk ist aktiv und regt an ‚weiterzuschreiben’. Aus eben diesem Grund bindet Vigner die Graphiker M/M in seine Arbeit ein, denn auch sie sehen ihr graphisches Werk als etwas stets zu erneuerndes, zu bearbeitendes. Gemeinsam schaffen sie eine neue Kunstform, in der drei ‚Handschriften’ in Wechselwirkung treten: Text, Inszenierung und plastischer Ablauf.

"Das Werk der Duras stellt ein Ganzes dar, ein in-sich-Geschlossenes in verschiedenen Phasen, mehr oder weniger abstrakt, komisch, konkret, tragisch. Jeder dieser Abschnitte hat mit dem Ganzen zu tun, und umgekehrt. Die Helden der Erzählungen kommunizieren von Buch zu Buch, und auch die Erzählungen selbst. Die Arbeit der Darsteller und des Regisseurs besteht darin, sich zutiefst auf das Geschriebene, das Wort, das Material des Textes, einzulassen, um im Augenblick der Darstellung an das ursprüngliche Gefühl des Schreibens heranzukommen und es zu vermitteln. Wiewohl es im Theater stets um die Notwendigkeit geht, den Text präsent zu machen, stellt sich diese Frage bei Duras besonders deutlich und in unausweichlicher Weise."
ÉV

"Ernesto konnte zu diesem Zeitpunkt seines Lebens noch nicht lesen, und dennoch sagte er, er habe etwas in dem verbrannten Buch gelesen. Einfach so, sagte er, ohne daran zu denken, ja, ohne zu wissen, daß er es tat, und dann, na ja, dann habe er sich nichts mehr gefragt, weder ob er sich täusche, noch ob er tatsächlich lese oder nicht, noch was das überhaupt sein mochte, Lesen, so oder anders. Am Anfang, sagte er, habe er es auf folgende Art versucht: Er habe irgendeiner Wortzeichnung ganz und gar willkürlich eine erste Bedeutung gegeben. Dann habe er dem folgenden zweiten Wort eine andere Bedeutung gegeben, aber unter Berücksichtigung der dem ersten Wort unterstellten ersten Bedeutung, und das, bis der gesamte Satz etwas Sinnvolles bedeute. So habe er begriffen, daß das Lesen eine Art kontinuierlicher Ablauf einer von einem selbst erfundenen Geschichte im eigenen Körper sei." [2]

"Am Ende von LA PLUIE D’ÉTÉ widmet sich Ernesto - das Kind, das für sich den Ekklesiastikus entdeckt hat, ohne je lesen gelernt zu haben - der Wissenschaft, wird Lehrer und Gelehrter, fährt nach Amerika und schließlich überall dort hin, wo sich die großen Zentren der Wissenschaft befinden. Die Familie zerfällt, und aus den Ruinen dieser Familie, aus den Ruinen des ‚Sommerregens’, mitten aus den Flammen erhebt sich jene herrliche Frau, der eine Stimme zuruft: ‚Nichts hast du gesehen in Hiroshima’."
ÉV

"Und ich sah: Ein anderer gewaltiger Engel kam aus dem Himmel herab; er war von einer Wolke umhüllt, und der Regenbogen stand über seinem Haupt. Sein Gesicht war wie die Sonne, und seine Beine waren wie Feuersäulen. In der Hand hielt er ein kleines, aufgeschlagenes Buch. Er setzte seinen rechten Fuss auf das Meer, den linken auf das Land und rief laut, so wie ein Löwe brüllt. Nachdem er gerufen hatte, erhoben die sieben Donner ihre Stimme. Als die sieben Donner gesprochen hatten, wollte ich es aufschreiben. Da hörte ich eine Stimme vom Himmel her rufen: halte geheim, was die sieben Donner gesprochen haben; schreib es nicht auf! Und der Engel, den ich auf dem Meer und auf dem Land stehen sah, erhob seine rechte Hand zum Himmel. Er schwor bei dem, der in alle Ewigkeit lebt, der den Himmel geschaffen hat und was drin ist, die Erde und was darauf ist, und das Meer und was darin ist: Es wird keine Zeit mehr bleiben.” [3]

"Leben bedeutet, stets auf der Ebene des Individuums, Gegenwart und Vergangenheit mit einander in Beziehung zu setzen - aber auch, dass Gegenwart und Vergangenheit ein Ganzes bilden, weil sie einander an einem Punkt berühren. Doch was ist denn die Gegenwart anderes als eben dieses sich Berühren ?" [4]

"Zeit wird dahingehen. Nichts als Zeit.
Und Zeit wird kommen.
Zeit wird kommen. In der wir keinen Namen wissen werden für das, was uns einen wird. Ganz allmählich wird der Name dafür aus unserem Gedächtnis dahinschwinden.
Und dann wird er ganz entschwinden."
[5]

Nach dem Festival von Avignon, geht PLUIE D’ÉTÉ À HIROSHIMA in der Spielzeit 2006/07 in Frankreich auf Tournee. Spielorte sind unter anderem das Théâtre des Amandiers in Nanterre, das Quartz in Brest und das TNT in Toulouse. 

[1] MARGUERITE DURAS, LA COULEUR DES MOTS, Unterhaltung mit Dominique Noguez
[2] MARGUERITE DURAS, LA PLUIE D'ÉTÉ 1990, Deutsch von Andrea Spingler
[3] OFFENBARUNG DES JOHANNES, DER ENGEL UND DAS KLEINE BUCH 10,1-11
[4] Bernard NoËl, LA CASTRATION MENTALE, Auszug in Deutsch von HERBERT KAISER
[5] MARGUERITE DURAS, HIROSHIMA MON AMOUR, Deutsch von Walter Maria Guggenheimer 

 

© Photographie: Alain Fonteray
Zusammenfassung der Texte: Jutta Johanna Weiss
Übersetzung aus dem Französischen: Herbert Kaiser
© CDDB-Théâtre de Lorient