1992 · Le Régiment de Sambre et Meuse · (Das Regiment der Sambre-et-Meuse) · Vigner (DE)
"Man führt nicht Krieg, wenn man den Krieg nicht liebt, wenn man sich nicht dafür geschaffen, nicht für den Kampf bestimmt fühlt - für das Theater gilt Gleiches."
Jean Genet, Les Paravents
"Während der Proben haben wir in der eiskalten Fabrik Radio gehört und alle Ereignisse des Golfkrieges mitverfolgt. In der aufgelassenen Fabrik, einem Universum aus Stein und Eis, wuchs dieser Konflikt ins Unbegreifliche, Unerfassbare. So erdachte ich das nächste Stück wie als Folge: LE RÉGIMENT DE SAMBRE ET MEUSE. Was ist, was bedeutet Krieg für uns, für mich, der ich nie im Krieg gewesen bin, nie direkt konfrontiert wurde mit dieser Art von Realität? Ich ersann eine Fiktion für sieben Schauspieler in einer zerstörten Stadt, wo tagtäglich Krieg ist, seit Jahren, irgendwo auf dieser Welt. Sie treffen sich heimlich in einem aufgelassenen Theater, einem Theater, das nicht mehr existiert, in einer verbotenen Zone. Sie machen Theater zum einem Akt des Widerstandes gegen die Realität, die sie erleben."
ÉRIC VIGNER
"Es besteht ein Zusammenhang zwischen dem Theater und dem Tod, zwischen dem Theater und dem Krieg. Ein Zusammenhang zwischen der Arbeit am Theater und der Arbeit der Militärs. Im Theater ist man der Gefahr eines imaginären Todes ausgesetzt, im Krieg der Gefahr des realen Todes. Mit dem Theater ist es wie mit einer Kompanie, einer Division, deren Aufgabe es ist, eine Zitadelle zu erstürmen - ohne Aussicht, siegen zu können. Was es braucht, ist Erfindungsgabe."
Antoine Vitez [1]
LE RÉGIMENT DE SAMBRE ET MEUSE entsteht aus Fragmenten literarischer und poetischer Vorlagen von ALPHONSE ALLAIS, LOUIS-FERDINAND CÉLINE, JEAN GENET, ROLAND DUBILLARD, GEORGES COURTELINE und FRANZ MARC - jeweils mit Bezug auf deren Erfahrungen in Militär und Krieg. Eric Vigner verkehrt alle Regeln der klassischen Dramaturgie, bricht mit linearen Geschehenskettenm: kein Beginn, keine Mitte, kein Ende. Wir springen in der Zeit vermittels der Autoren.
Unter den Texten finden sich auch drei Briefe von Franz Marc - einem Maler, der sich zum freiwilligen Dienst an der Front gemeldet hat. Er ist in Verdun und schreibt seiner Frau. Er spricht nicht vom Krieg, er spricht von seiner Kunst. Es spricht vom Geistigen in der Kunst. Zusammen mit Kandinsky gründete er den ‚Blauen Reiter’, ist mit Klee befreundet, er malt seit kaum erst drei Jahren - er ist dreißig - und hat dennoch bereits alle stilistischen Ausdrucksformen seiner Kunst und Zeit durchlaufen - Kubismus, Fauvismus ... - langsam gleitet er in die Abstraktion, zu reinen, symbolstarken Farben - es ist die Geburtsstunde der willkürlich gewählten Farbe, der Farbe der Subjektivität. Sie ist weniger die farbliche Wiedergabe der Natur als vielmehr gewollt ausdruckstarkes Instrument für den Maler zur Vermittlung eines geistigen Zustandes, einer Emotion, einer anderen Natur, jener der Welt von innen. Er ist im Krieg und schreibt seiner Frau "Jenseits des Krieges, jenseits der Realität des Krieges, der Schlachten, da gibt es etwas. Etwas von der Ordnung der Welt, etwas wie Harmonie". Und eben diesem Erahnten wollte er in seinen Werken Ausdruck verleihen. Doch, er kann es nicht, er ist im Krieg.
"Wir leben schon auf der ‚anderen Seite’, auf der Seite der Nichteitelkeit, der Nicht-Anwendung des Wissens. Das Können und das Wissen tragen wir in uns; tonlos; über die Technik des Daseins redet der Edle nicht. Nur das Eine muss geschehen: Die Befreiung der Kunst aus ihrer Maskierung. Die Kunst ist heute nicht mehr dazu da, den Menschen zu großen oder kleinen Vorwänden zu dienen. Die Kunst ist metaphysisch, wird es sein; sie kann es erst heute sein. Die Kunst wird sich von Menschenzwecken und Menschenwollen befreien. Wir müssen von nun an verlernen, die Tiere und Pflanzen auf uns zu beziehen und unsere Beziehung zu ihnen in der Kunst darzustellen. Jedes Ding auf der Welt hat seine Formen, seine Formel, die wir nicht mit unseren plumpen Händen abtasten können, sondern die wir intuitiv in dem Grade erfassen, als wir künstlerisch begabt sind. Es wird immer Stückwerk bleiben, solange wir in diesem erdgebundenen Dasein stehen, aber glauben wir nicht alle an die Metamorphose? Wir Künstler alle, - weshalb suchten wir ewig die metamorphosen Formen? Die Dinge wie sie wirklich sind, hinter dem Schein? Die Dinge reden: in den Dingen ist Wille und Form. Warum wollen wir dazwischensprechen? Wir haben nichts kluges ihnen zu sagen… Wir glauben, dass wir heute an der Wende zweier langer Epochen stehen; aber noch liegt das weite Land voll Trümmer, voll alter Vorstellungen und Formen, die nicht weichen wollen, obwohl sie schon der Vergangenheit gehören. Die alten Ideen und Schöpfungen leben ein Scheinleben fort, und man steht ratlos vor der Herkulesarbeit, wie man sie vertreiben und freie Bahn schaffen soll für das Neue, das schon wartet."
Franz Marc [2]
LE RÉGIMENT DE SAMBRE ET MEUSE wird am 25. März 1992 im Quartz in Brest uraufgeführt, mit sieben Schauspielern der COMPAGNIE SUZANNE M. ÉRIC VIGNER, BRUNO BOULZAGUET, ARNAUD CHURIN, PHILIPPE COTTEN, BENOÎT DI MARCO, ARTHUR NAUZYCIEL, DOMINIQUE PARENT und GUILLAUME RANNOU.
Éric Vigner sucht nach entsprechenden Formen, gibt dem Theaterraum ein neues Gesicht, in dem die vertikalen Verbindungen zu Tage treten können. Ort der Aufführung ist das gesamte Haus. Mit dem nervösen Lachen der Todgeweihten gibt sich eine Auswahl an menschlichem Kanonenfutter ein letztes Mal "DIE GROSSE ILLUSION".
"Franz Marc stellt die Frage nach einer neuen Art der Darstellung. Ich glaube, man ist heute dieser Periode sehr nahe. Es gilt, einen Beginn zu machen, anzuheben zu bauen, zu suchen für die Zukunft. Ich finde es äußerst schwierig, heutzutage ein kohärentes Werk in einer klassischen Struktur auf die Bühne zu bringen. Heute laufen die Dinge anders. Ich meine, wir sehen nur Ansätze, Fragmente, und aus der Gegenüberstellung, aus der Konfrontation, aus der Spannung zwischen diesen Fragmenten wird vielleicht etwas von einer neuen - ich weiß nicht welcher - Welt erwachsen."
ÉV
"Ich möchte so sein wie diese jungen Menschen. Wie sie habe ich Lust am Geheimen und Verborgenen. Ich möchte arbeiten wie ein Maler, der Monate lang allein gewirkt hat, fern der betrachtenden Blicke, und dann sein Werk enthüllt, es ‚freigibt’ - ein schmerzlicher Augenblick."
ÉV
Nach der Wiederaufnahme des RÉGIMENT DE SAMBRE ET MEUSE am Centre Dramatique National von Aubervilliers, arbeitet Eric Vigner mit ANATOLI VASSILIEV in Moskau, mit YOSHI OÏDA im Rahmen der Académie Expérimentale des Théâtres, sowie mit LUCA RONCONI. 1993 erhält er von PETER BROOK die Einladung zur Leitung einer Meisterklasse über Regiearbeit und zählt ab nun zu den innovativsten Regisseuren seiner Generation.
© Photographie: Alain Fonteray
Zusammenfassung der Texte: Jutta Johanna Weiss
Übersetzung aus dem Französischen: Mag. Birgitt Csoklich
© CDDB-Théâtre de Lorient