2013 · Orlando (DE)

"Einen unschuldigen Zuschauer gibt es nicht. Was man sieht, hat immer auch Geschichte, eine mehr oder weniger reale Vergangenheit. Abstrakte Kunst setzt sich mit dem Gedanken auseinander, dass der Zuschauer nicht nur körperlich sondern auch mit seiner Erinnerung am Geschehen teilnimmt. Wann immer Gedächtnis und Körper an einem Kunstwerk Anteil nehmen, geschieht etwas, kommt es zu einer Veränderung."[1]

Mit HÄNDEL's Oper ORLANDO lädt ÉRIC VIGNER uns ein, in das Innenleben eines Menschen einzudringen, dessen Rasen das Wüten eines Menschen ohne Saft und Kraft ist. Der Held ist blutleer, gefesselt durch die Qualen einer unglücklichen Liebe, die ihn bis an die Grenzen des Wahnsinns treibt.

"Orlando ist die verfremdete Geschichte eines Odysseus, der nach all zu langer Irrfahrt die Liebe Penelopes verloren hat."
BÉNÉDICTE VIGNER

Mit ihrer stimmlich und darstellerisch hochkarätigen Besetzung - DAVID DQ LEE (Orlando), ADRIANA KUCEROVA (Angelica), KRISTINA HAMMARSTRÖM (Medoro), SUNHAE IM (Dorinda), LUIGI DE DONATO (Zoroastro) und den Schauspielern GRÉGOIRE und SÉBASTIEN CAMUZET - steht diese lyrische Variation über die Person des Roland im Zeichen des neuerlichen Zusammentreffens des Dirigenten JEAN-CHRISTOPHE SPINOSI mit dem Regisseur ÉRIC VIGNER (L’ILLUSION COMIQUE aus dem Jahr 1996 und MARION DE LORME aus 1998).

Zurück zu den ursprünglichen Personen

"Warum hat man Roland zu einer Figur aus einer barocken Schäferdichtung gemacht? Um ihn zu auszulöschen? Um seinen rasenden Wahn zu negieren? Um ausgehend von dieser uralten Geschichte von Kampf und Heldentum etwas Anderes, Neues zu machen? Was ich an dieser Oper liebe, ist eben diese Geschichte einer Erfahrung. Jeder künstlerische Schaffensprozess bedeutet, jemand einer ganzen Reihe von Erfahrungen auszusetzen - etwas, das einer Performance nahekommt."[2]
FRÉDÉRIC BOYER

"An eine Oper etwa wie an einen Traum heranzugehen, einen jener Träume, die in dir beim Erwachen eine lang anhaltende rätselhafte Emotion zurücklassen, deren unbekannte Quellen zu entschlüsseln du dich bemühst."[3]

"Wie in Corneilles Spiel der Illusionen (L'illusion comique), das ein Jahrhundert zuvor entstanden ist, macht Orlando – jener verweichlichte entfernte Vetter von Ariosts Rasendem Roland – durch das Theater die Erfahrung zu lieben. Ort dieser Erfahrung ist das Theater selbst. HÄndels Oper bietet die musikalische Landschaft, in der Orlando die verschiedenen Formen und Etappen der Liebe durchläuft: Sehnen, Liebe, Leidenschaft, Eifersucht, Verzweiflung, Verachtung und Wahnsinn, der ihn fast in den Selbstmord treibt, sind die Stadien seiner Initiation. Wenn auch das Libretto nur wenig mit Ariosts Epos gemein hat, erscheinen uns die handelnden Personen vor allem wie ein Rückgriff auf alte Mythen: die Helden sind müde, ja eigentlich gibt es den Begriff des Heldentums gar nicht mehr, weil man der Liebe, nicht dem Krieg, Vorzug gibt. Nun ist die Liebe aber gefährlich, wie uns Zoroastro nur allzu deutlich zeigt. Wie etwa ein Fellini inszeniert er ein Liebesspiel, in dem alle vier - Orlando, Angelica, Medoro und Dorinda - sich und einander in den Wirren einer leichten Komödie à la Marivaux verlieren. Das Liebesdiskurs der handelnden Personen spiegelt sich wider in der Ästhetik der Inszenierung: der Bühnenraum wird zum unwirklichen, unsicheren Ort, an dem unsere Liebenden sich entschleiern oder einander verlieren können. Mein Entschluss, Musik als ein Kunstwerk darzustellen, das nicht figürlich gestaltet werden kann - wie schon in Brancusi contre Etats-Unis, wo ich die Frage nach dem Platz der Kunst im Bereich des Theaters stellte - gestattet mir eine Weiterführung der ästhetischen Überlegungen, die darauf abzielen, dem lyrischen Zeremoniell dienstbar zu sein."
ÉRIC VIGNER

"Das Bühnenbild ist ein Katalysator, der in der Lage ist, den Raum umzugestalten, so dass die Materie eine magische, surreale Gestalt annimmt, die den Zuschauer in ein mehr körperliches und intuitives Verständnis des abgehandelten Gegenstandes eintaucht."[4]

Eric Vigner's Oper der Dämmerung

"Diese Barockoper ist alles andere als verstaubt, Orlando ist zeitlos. Seine Leichtfüßigkeit, sein leichtes Hinken, lässt uns die Zerbrechlichkeit seines hochmütigen Stolzes erahnen, der den zeitlosen Erfahrungen der Liebe ausgesetzt wird. Ein Magier teilt ihm mit, dass sich seine Angebetete in einen anderen Mann verliebt hat. Verzweifelt flieht er in einen Raum ohne Zeit. Das Bühnenbild materialisiert diesen Raum, zeigt eine Nacht ohne Ende, ein szenisches Labyrinth, scheinbar ohne Ein- und Ausgang. Wie Orlando, der es vorzieht, ziellos auf den Wogen der Liebe dahinzutreiben, statt sich seinem ruhmvollen Schicksal zu stellen, bleiben wir erstarrt, gelähmt durch den allzu realen Wind der Gegenwärtigkeit. Und Éric Vigner nutzt eben diese Starre, dieses bewegungslose Verharren, um sein Publikum zu erreichen. Die Darsteller, fast statuenhaft in ihren schweren Kostümen, gehüllt in eine Vielzahl von Symbolen, erscheinen lebendig und maßlos aufgrund einer theatralischen, ins Übermaß gesteigerten Gestik. All dies macht die Liebeswirren und die Regungen des Herzens umso reizvoller. Durch die Nacht ihrer Bewegungslosigkeit erklingen Stimmen, leuchten als wären sie die sichersten, vertrauenswürdigsten Führer ihres Verlangens. Diese Stimmen - Countertenöre und Soprane - sind wie leuchtende Fäden, die einander kreuzen und die Qualen der menschlichen Leidenschaften umschlingen, tausende zerbrechliche Wahrnehmungen, die sich zu einem strahlenden Gewand zusammenfügen. Die Stimmen werden zu Sphärenklängen, nehmen Gestalt an, werden belebt durch das Ensemble Matheus, ein virtuoses Orchester unter der Stabführung von Jean-Christophe Spinosi. Schritt für Schritt übernimmt die Musik die Führung, nimmt das Ohr gefangen, um, wann immer sie den Atem anhält, das schöpferische Genie HÄndels zum Leuchten zu bringen. Eine mystische Erfahrung, die uns befreit zurücklässt, nackt, bar aller Zwänge, bereit , zu einer Reise bis an die äußersten Grenzen menschlichen Empfindens aufzubrechen."
QUENTIN MARGNE, Inferno Magazine, 8. Jänner 2014

Schließlich sei die Liebe nichts anderes als ein Wahn, sagen die Weisen in aller Welt. Selbst wenn nicht alle, die ihr verfallen, wie Roland rasend werden, zeigt sich ihre Verirrung in anderer Weise. Und was wäre ein eindeutigeres Zeichen von Irresein als die Bereitschaft, sich nach dem Willen eines anderen selbst zu zerstören? [5]

"Éric Vigner schafft ein abstraktes Universum von großer visueller Eleganz. In diesem Raum - Produkt eines genialen Kunstgriffs - zaubert Zoroastro mit einem Fingerschnippen, einen Wald, oder einen Ozean, hervor, der nur aus einem sublimen Vorhang aus farbigen Perlen besteht. Die Seelenzustände seiner Helden verändern die Landschaft wenn einer der Protagonisten den Vorhang bewegt, so wie Emotionen unseren Blick auf die Umwelt verändern."
Tania Bracq, Forum Opéra, 18. Oktober 2013

Zum ersten Mal haben drei wichtige Städte der Bretagne und ihre Institutionen zur Verwirklichung eines gemeinsamen Projekts zusammengeschlossen: Mit der Unterstützung des Conseil régional und der DRAC kooperierten L’Opéra de Rennes, Le Quartz à Brest und Le Théâtre de Lorient in der Produktion einer großartigen Oper. Dieser geballten Energie ist es zu verdanken, dass sich auch Partner außerhalb der Region an dem Projekt beteiligten: L'Opéra royal du Château de Versailles und das Théâtre du Capitole de Toulouse.

[1] ANISH KAPOOR, MONUMENTA, Beaux-Arts Édition 2011
[2] FRÉDÉRIC BOYER, Autor von RAPPELER ROLAND, Gespräche mit ÉRIC VIGNER, TDL Magazine
[3] MICHEL POIZAT, L'OPÉRA OU LE CRI DE L'ANGE, Éditions Métailié 2001
[4] Ketevan Kintsurashvili, Internationales Szenographie-Symposium , Prag 2011
[5] ARIOSTO, ORLANDO FURIOSO (O.F. XXIV, 1-3), Éditions Garzanti, Milano 1992

© Photographien : Alain Fonteray, Jean-Louis Fernandez
Zusammenfassung der Texte: Jutta Johanna Weiss
Übersetzung aus dem Französischen: Herbert Kaiser
© CDDB-Théâtre de Lorient