2007 · Débrayage · De Vos · Vigner (DE)
Das erste Theaterstück von RÉMI DE VOS, DÉBRAYAGE (ausstand), aus dem Jahr 1995, ist eine Komödie, eine Serie von Sketches, die oft komisch sind und stets grausam. Vierunddreißig Personen, auf eine Stadt losgelassen, sehen sich Situationen gegenüber, die sie in eine Krise stürzen. Das Einzige, das sie gemein zu haben scheinen, ist ihre Angst vor dem Ausgesetzt-Sein, oft, aber nicht ausschließlich, in Verbindung mit dem Verlust des Arbeitsplatzes, der als einzig möglicher Wert - Lebens-Wert - gesehen wird. Im Juni 2007 entschließt sich Vigner, DÉBRAYAGE mit fünfzehn jungen Schauspielern anläßlich ihres Studienabschlusses an der Manufacture (der Hochschule für dramatische Kunst der Westschweiz), auf die Bühne zu bringen. Am 9. Oktober 2007 nimmt die französische Tournee des Stückes am CDDB in Lorient ihren Anfang.
"Eine ‚Reise nach Jerusalem’ unter einem metaphysischen Himmel. Ohne Boden unter den Füßen stürzen die Personen des Stücks - Archetypen des modernen städtischen Lebens - in den Abgrund, und auf dem Weg hinunter sprechen, nein schreien sie eine klare, unverblümte Sprache, um sich zu retten. RÉMI DE VOS schreibt als Dichter. Kein Wehklagen über den Zustand der Welt. Keine gesellschaftspolitische oder auch nur politische Analyse ihres unausweichlichen Abgleitens. Sein Text ist der einfache Ausdruck des Gefühls einer abgelebten Welt, ein Blick ins Innere, ohne einen Hauch von Nihilismus. Das wirklich Neue ist, daß man der Erfindung unserer gegenwärtigen Wahrheit beiwohnt - und lacht."
ÉRIC VIGNER
"Ich glaube, es ist falsch zu sagen, Marx sei tot. Er ist klarerweise gestorben, ohne Zweifel, das versteht jeder Sechsjährige, dem man erklärt, er sei vor 150 Jahren auf die Welt gekommen, als ganz normaler Mensch usw. Gut. […] Von Gott weiß man ja nicht einmal, ob er geboren wurde. Von Marx sagt man, er sei tot, OK, wenn man so will, aber man weiß wenigstens, daß er geboren wurde, das läßt sich nicht leugnen, und das ist ein ziemlicher Vorteil, denn man sagt sich nicht alle Augenblicke: ’Aber bist du sicher, daß er das gesagt hat, bist du sicher, daß er überhaupt gelebt hat?’ Einverstanden? Aber ich bitte Sie, meine Herren, ich sage das ja nur um des Argumentes willen.” [1]
"RÉMI DE VOS ist ein schneller Denker. Was er sagt, sind weder Überlegungen noch Argumentationen - reine Logorrhoe. Alles, nur nichts Gewöhnliches. Sobald das zu einem Dialog wird, ist da etwas, das man nicht versteht. Folgen Sie einfach der Bewegung des Satzes, eilen Sie nicht voraus und bleiben Sie nicht zurück. Halten Sie sich möglichst genau an das Wort. Wort für Wort kommt man voran…"
ÉV Probennotiz
"Als ich DÉBRAYAGE schrieb, konnte es geschehen, daß ich auf einen Zeitungsartikel stieß, der meine Aufmerksamkeit auf sich zog. So las ich etwa, daß man in Lothringen einen Vergnügungspark eröffnet habe, in einem verelendeten Gebiet, in dem der Verfall der Eisen- und Stahlindustrie zur Massenarbeitslosigkeit geführt hatte, und daß die Arbeitslosen nun wieder Arbeit gefunden hätten, indem sie sich als Schlümpfe verkleideten! Diesem Umstand habe ich sofort eine Passage gewidmet, aber das war auch schon alles. Meine literarischen Vorlieben hatten mit dem Thema, das zu behandeln ich mir vorgenommen hatte, nur wenig zu tun. Ich las viel BECKETT, KAFKA, FERNANDO PESSOA... Von BECKETT ist mir im Gedächtnis geblieben, daß ‚nichts komischer ist als das Unglück’, bei KAFKA ist es der unleugbar komische Aspekt eines Menschen der sich in den Fangarmen einer mächtigen und unmenschlichen Verwaltung verstrickt. PESSOAs BUCH DER UNRUHE hat mich ungemein berührt, denn es handelt von einem Büroangestellten, der der Mittelmäßigkeit seines Lebens zu entkommen sucht, indem er schreibt, durch Konzentration auf sein Innenleben, die reine Betrachtung von Lebewesen und Dingen. Mein Leben war all dem sehr nahe gekommen… Das also waren die drei großen Schriftsteller, die ich damals las und die ich heute noch lese. Sie haben ohne Zweifel auch in meinem Inneren gearbeitet, aber im Untergrund sozusagen."
RÉMI DE VOS
"Wenn die Schriften von DE VOS radikal sind, so ist die Kunst eines VIGNER von grundlegender Bedeutung - eine göttliche Komödie, in der der Arbeitsvertrag die vertragliche Arbeit ersetzt, wo Arbeitsbeziehungen Lug und Trug sind und die Komödie - wie im Theater SHAKESPEAREs, von dem MARX so fasziniert war - in einer dialektischen Beziehung zur Tragödie steht. DÉBRAYAGE ist ein spektrales, spektakuläres Stück, das verwirrt, anregt, erheitert und beunruhigt - ein seltenes Spectaculum, eingefrorene Zeit, die mit Höchstgeschwindigkeit dahinrast, eine Ästhetik des Gefühls."
STÉPHANE PATRICE
© Photographie: Alain Fonteray
Zusammenfassung der Texte: Jutta Johanna Weiss
Übersetzung aus dem Französischen: Herbert Kaiser
© CDDB-Théâtre de Lorient