1993 · La Pluie d’Été · (Sommerregen) · Duras · Vigner (DE)

Im Frühjahr 1993 leitet er am Conservatoire National Supérieur d’Art Dramatique eine Meisterklasse für die Diplomanden: HÉLÈNE BABU, MARILÙ BISCIGLIA, ANNE COESENS, THIERRY COLLET, PHILIPPE MÉTRO und FRÉDÉRIC MULON. Éric Vigner bearbeitet MARGUERITE DURAS’ LA PLUIE D’ÉTÉ, ihr erst vor kurzem erschienenes Buch, für die Bühne. Ausschlaggebend ist der Satz des Ernesto:

"Ich gehe nicht mehr in die Schule, weil man mir in der Schule Dinge beibringt, die ich nicht weiß." [1]

Die Vorstellungen am Théâtre du Conservatoire werden durch Marguerite Duras’ Präsenz gekrönt, ein Wendepunkt im Leben und auf dem künstlerischen Weg Éric Vigners.

"Sie ist da, sie erlebt zum ersten Male die Darstellung ihrer Worte, ihres Sommerregens auf der Bühne, in der spielerischen Deutung eines anderen: Éric Vigner. Unbeweglich sitzt sie da, in höchster Konzentration, die Augen festgemacht auf der Bühne; sie sieht nichts rundum, nur und ausschließlich das, was sich anschickt zu sein. Sie lauscht diesen Worten, diesen Sätzen, diesen Menschen - sie erkennt sie wieder, hat sie sie doch geschrieben, komponiert, erschaffen. Und dann mal wieder nicht: ab und an entdeckt sie Neues; das Erstaunen ist groß. Sie lächelt dort, wo es still wird, in jenen Takten, in denen sich das Wort Raum gibt zum Schweigen, wo das Lesen einhält: ‚(Pause) - ... - Sanftheit. - Er erinnert sich. - Schweigen. - Er sinnt nach. - Die Eltern betrachten ihn. - Schweigen. - (Zeit) ...’ Ihre Emotionen schwingen mit den Tönen der ihr zu Gehör gebrachten Partitur. Ihr Zeigefinger stimmt zu. Vollinhaltlich. Bleibt dann plötzlich hängen in der Luft, wartet auf den Fortgang der gespielten Geschichte. Schreiben ist vielleicht ein unvernünftiger Versuch, das Unendliche in die Endlichkeit, die Vergänglichkeit, die Sterblichkeit einzubringen, Geschriebenes in den Raum zu sprechen, ist ein noch unvernünftigerer Akt, um eben dieses Unendliche im Augenblick erspüren zu lassen.
Vom Schreiben zum In-den-Raum-Schreiben, von einer Schreibweise zur anderen, nehmen wir Anteil am Verknüpfen des Erfahrenen. Zwei Charaktere, zwei Unterschiedlichkeiten, entfalten sich im poetischen Raum der Inszenierung: in einer gemeinsamen Sprache - in dem e i n e n Wort. Verknüpfung durch etwa das verbrannte Buch, das wie ein Leitmotiv die Erzählung durchzieht, die Geschichte eines jüdischen Königs. Das Buch, das Ernesto liest, als er noch nicht lesen kann. Keine Beurteilung, keine Verurteilung, keine Unterweisung in Dramaturgie. Wir stehen ganz am Anfang, vor Ausformung der Worte, vor Ausbildung jeglichen Diskurses, vor jedweder Festmachung von Sicherheiten. Es wird nichts erklärt. Es ist nichts zu erklären. Und vor allem: ‚es lohnt ja nicht’.
- Der Lehrer: Die Welt ist verpfuscht, Monsieur Ernesto.
- Ernesto, ruhig: Ja. Sie wussten es, Monsieur… ja… sie ist verpfuscht.
Lächeln des Lehrers.
- Der Lehrer: Beim nächsten Mal dann… Diesmal allerdings…
- Ernesto: Diesmal, sagen wir, hat es sich nicht gelohnt.
Ernesto lächelt dem Lehrer zu.
Das Stück endet in Flammen, im Mysterium des verbrannten Buchs. Zur Gänze in Asche. Marguerite Duras erhebt sich, sichtbar bewegt, und sagt: ‚Vielleicht habe ich mich ja auch getäuscht, vielleicht lebt Geschriebenes im Theater doch ausdrucksstärker als auf Papier’."
BÉNÉDICTE VIGNER, MAI 1994

" Ich, Davids Sohn, König von Jerusalem, ich habe die Hoffnung verloren, ich habe alles bereut, was ich gehofft hatte. Das Böse. Den Zweifel. Die Ungewissheit ebenso wie die Gewissheit, die ihr vorangegangen war.
Die Pest. Ich habe die Pest bereut.
Die unfruchtbare Suche nach Gott.
Den Hunger. Das Elend und den Hunger.
Die Kriege. Ich habe die Kriege bereut.
Das Zeremoniell des Lebens.
Ich habe die Lüge bereut und das Böse, den Zweifel.
Die Gedichte und die Lieder.
Das Schweigen habe ich bereut.
Und auch die Ausschweifung. Und das Verbrechen.
Die Liebe, bereute er. (…)
Einmal, bereute er nicht. Nichts mehr bereute er. "
[1]

Der Erfolg der Meisterklasse ermöglicht die Produktion von LA PLUIE D’ÉTÉ mit HÉLÈNE BABU, MARILÙ BISCIGLIA, ANNE COESENS, THIERRY COLLET, PHILIPPE MÉTRO und JEAN-BAPTISTE SASTRE. Das Quartz Theater programmiert die Uraufführung am 25. November 1993, in Anwesenheit von MARGUERITE DURAS, Aufführungsort ist das STELLA, ein aufgelassenes Kino der fünfziger Jahre in Lambézellec, einem Vorort von Brest. Daran schloss sich eine zwei Jahre dauernde Tournee durch Frankreich und Russland. Zwischen der Autorin und dem jungen Regisseur erwächst eine tiefe Freundschaft.

Vigners Interesse gilt vor allem der Figur des Ernesto, eines Einwandererkindes, dessen Familie in Vitry Aufnahme gefunden hat. Ernesto war schon in dem Film Les Enfants (Die Kinder) vorgekommen, den die Duras 1984 gedreht hatte. Zart und "nicht von dieser Welt", hat Ernesto - "zwischen zwölf und zwanzig Jahre alt" - zwei geheiligte "Besitztümer": ein verbranntes Buch und einen mythischen Baum. Er weigert sich, zur Schule zu gehen, denn "in der Schule lerne ich Dinge, die ich nicht weiß". Das versengte Buch läßt ihn erkennen, dass er lesen kann:

"Sowie man in diese Art Licht des Buches eingetreten ist… lebt man im Zustand des Geblendetseins… (Ernesto lächelt.)… Hier ändern die Wörter nicht ihre Form, sondern ihren Sinn… ihre Funktion… Sehen Sie, sie haben keinen eigenen Sinn mehr, sie verweisen auf andere Wörter, die man nicht kennt, die man nie gelesen oder gehört hat… deren Gestalt man nie gesehen hat, aber man spürt… man ahnt… ihren leeren Platz in sich… oder im Universum… ich weiß nicht... " [1]

"Ich werde in diesem Winter Theater machen, und ich hoffe, ich komme von zu Hause weg, gelesenes Theater, nicht gespieltes. Das Spiel ist dem Text abträglich, es steuert nichts zu ihm bei, im Gegenteil, es nimmt dem Text Präsenz, Tiefe, Muskeln, Blut. Gegenwärtig bin ich dieser Ansicht. Doch bin ich häufig dieser Ansicht. Im Grunde denke ich so von Theater." [2]

"Ich stieß auf das Stück Sommerregen im Theater des Konservatoriums. Die Schauspielschüler spielten und lasen an jenem Abend das Buch von Marguerite Duras. Ein Einwandererkind will nicht mehr zur Schule gehen und erklärt uns unter dem Sternenhimmel seine Beweggründe. Wie Recht er hat! Das Buch öffnet sich. Man sieht Vater und Mutter des Jungen, seine Spielkameraden, den Lehrer, eine Journalistin... und... die tragikomische Geschichte wird zum großen Drama. Anschließend traf ich den Regisseur der Aufführung - das erste Mal. Von ihm möchte ich Ihnen erzählen. Éric Vigner liebt Text. Er hat einen absoluten (körperlichen) Sinn für Räume. Genau das, was ich suche, was mich nie verläßt. (...) Wie arbeitet dieser Éric Vigner? Ich kann es nicht sagen, aber ich weiß, dass dieser junge Mann von seinen Schauspielern alles, aber auch alles verlangen kann - denn er hat die Wachheit eines wilden Tieres und den Blick des Poeten. " 
Jean Audureau (04/07/93)

In LA PLUIE D’ÉTÉ, diesem Buch, das die Schauspieler teils aufführen, teils lesen, verwandelt Marguerite Duras Vitry - "den banalsten, unliterarischesten Ort, den man sich vorstellen kann" - in einen verträumten (geträumten) Vorort, einen Ort, an dem, rund um eine Familie am Rand des sozialen Gefüges, die Autorin mit Worten spielen kann, wie man an einer Furt von Stein zu Stein hüpfend das Wasser überquert, vom Leben und von der Zeit spricht, von der Schule und von Gott, von Reisen und Stürmen. Éric Vigner folgt dem roten Faden der Erzählung und erschafft damit erneut, was die Duras zum Leben erweckt hat: das Gefühl.

"Die Verwundung der Seelen, die den Körper unversehrt lässt, ist es, was am Ende der Aufführung die Bühne im wahrsten Sinne des Wortes zum Raub der Flammen macht - Flammen, in deren loderndem Licht die Akteure sich vor dem Publikum verbeugen, bis ein Feuerwehrmann den Brand löscht und damit alle - Schauspieler wie Publikum - in die Wirklichkeit des nächtlichen Brest zurückruft, in der Stadt und Ozean an diesem Abend verschmelzen." 
HERVÉ GAUVILLE (Libération, 9. November 1993)

[1] MARGUERITE DURAS, LA PLUIE D’ÉTÉ (SOMMERREGEN), Französische Originalausgabe Gallimard 1990, Deutsch von ANDREA SPINGLER
[2] MARGUERITE DURAS, LA VIE MATERIELLE (das tägliche leben), Französische Originalausgabe Gallimard 1987, Deutsch von ILMA RAKUSA
 

© Photographie: Alain Fonteray
Zusammenfassung der Texte: Jutta Johanna Weiss
Übersetzung aus dem Französischen: Mag. Birgitt Csoklich
© CDDB-Théâtre de Lorient