1996 · Brancusi contre États-Unis · Vigner (DE)

"Mein ganzes Leben lang habe ich mich mit dem Fliegen beschäftigt."
BRANCUSI

Am 16. Juli 1996 bringt Vigner BRANCUSI CONTRE ÉTATS-UNIS - Un procès historique, 19281 (Brancusi contra Vereinigte Staaten - Ein historischer Prozess, 1928) heraus, eine Bearbeitung für die Fünfzigjahrfeier des Festivals von Avignon im Konklavesaal des Papstpalastes. Es spielen: PIERRE BAUX, ODILE BOUGEARD, PHILIPPE COTTEN, DONATIEN GUILLOT, ARTHUR NAUZYCIEL, VINCENT OZANON, LAURENT POITRENAUX, MYRTO PROCOPIOU, ALICE VARENNE. Das Stück wurde anschließend im Centre Georges Pompidou in Paris gezeigt, auf dem Gelände des Bergwerks von Forbach, im Gerichtsgebäude von Pau und am CDDB-Théâtre de Lorient

In dem Stück geht es um folgende Frage: Was ist Ende der zwanziger Jahre in den Augen eines amerikanischen Zollbeamten in New York ein Kunstwerk? Mit dieser Frage musste sich ein amerikanischer Gerichtshof im Rahmen eines berühmt gewordenen Prozesses auseinandersetzen, in dem einander der Bildhauer Constantin Brancusi und die Zollbehörde der Vereinigten Staaten gegenüber standen. Ein Zöllner hatte eine Bronze-Skulptur mit dem Titel ‚Oiseau’ - ‚Der Vogel’ - nicht als Kunstwerk (dessen Einfuhr zollfrei gewesen wäre) anerkannt und wie für jede Industrieware einen Einfuhrzoll in Höhe von 40% festgesetzt. Der Künstler strengte einen Prozess gegen die Vereinigten Staaten an und gewann. 

Frage: Sie behaupten, der Streitgegenstand (Beweisstück Nr. 1) sei ein Kunstwerk, das Ihrer Aussage zufolge einen Vogel im Flug darstelle ?
Antwort: Nein, es stellt nicht einen Vogel dar, sondern erweckt den Eindruck eines fliegenden Vogels. Es hat Eigenschaften, die das Bild eines Vogels im Flug - das Bild eines Vogelflugs - suggerieren, aber es stellt keinen Vogel dar.
F.: Es stellt keinen Vogel dar ?
A.: Nein.
F.: Könnte es eventuell auch einen Fisch darstellen ?
A.: Nein.
F.: Selbst wenn man ihm den Namen ‚Fisch’ gäbe ?
A.: Der Name bedeutet nicht viel. Was zählt, ist nur das Gefühl, das durch das Werk ausgelöst wird. Es geht nicht darum, dass es ‚Der Vogel’ heißt, sondern dass es den Eindruck des Fluges hervorruft.
F.: Ist das das Einzige, was das Kunstwerk ausmacht ?
A.: Nein, was das Kunstwerk ausmacht, ist die Form, das Ebenmaß, das wunderbare Gefühl, etwas geschaffen zu haben, und die Freude, die ich verspüre, wenn ich es betrachte.
F.: Verspüren Sie eine ebensolche Freude, wenn Sie ein anderes perfekt poliertes Metallstück vor sich sehen ?
A.: Nein, Euer Ehren.
Auszug in Deutsch von HERBERT KAISER

"Das Wort ‚Vogel’ hat für den Kläger und den Beklagten nicht dieselbe Bedeutung. Für letzteren bedeutet es etwas Flüchtiges, Unbestimmtes, für ersteren die Verkörperung des Fluges. Im Brancusi-Prozess verwenden beide Seiten dieselben Wörter, aber nicht im gleichen Tonfall, nicht mit dem gleichen Gefühl. Die Wortbedeutung ist nicht genug. Wenn sie aussagen, bezeugen sie ganz verschiedene Dinge. Auf der Bühne geht es mir nicht um die Bedeutung, ganz und gar nicht. Es geht mir um die Sprache - das gesprochene oder geschriebene Wort - als Poesie, um das ‚offene’ Wort, das Wort an sich... Auf der Bühne arbeiten wir also nicht mit dem Wortsinn, sondern mit dem Wortklang... um den Augenblick zu finden, in dem der Klang Sinn macht."
ÉRIC VIGNER

"Einem Prozess beizuwohnen, der naturgemäß voll Dramatik ist und in dem die Zeit dem Künstler Gerechtigkeit angedeihen lässt, erfordert von Seiten des Zuschauers ein hohes Maß an Bereitschaft, sich selbst und seine Fähigkeit, auf Neues zu reagieren, in Frage zu stellen. Das Theater eröffnet somit eine Diskussion über das Wesentliche." 
Georges Banu, Art-Presse, Dezember 1996

"Ein Gerichtssaal. Ein enger Raum, in dem ein Rat der Weisen darüber zu befinden hat, was Kunst ist und was nicht. Wie immer und überall stehen einander zwei Aussagen, zwei Welten, zwei Wahrheiten gegenüber, stumm, ohne einander zu verstehen: Wissen und Erkenntnis. Und plötzlich, wie auf einer schiefen Ebene, löst sich ‚der Vogel’ auf, entmaterialisiert sich im Raum, während das Wort anschwillt und an einem anderen Ort Körperlichkeit gewinnt, an einem Ort aus Klangfeldern: Er ist ein Forum, ein öffentlicher Raum, in dem die Konferenz der Vögel tagt, wo die Schauspieler, den Engeln in Wim Wenders ‚Der Himmel über Berlin’ gleich, versuchen, die Regeln, nach denen das Getriebe der Welt läuft, durch die Macht des Wortes neu zu definieren. Hier geht es um das Wort, das Anteil hat an der Erschaffung der Welt. So wie man die Welt erfindet, wenn man das Wort erfindet. Die Frage ist, wie die dramatische Kunst dem Rechnung tragen kann. Eine Arbeitshypothese !" 
BÉnÉdicte Vigner

© Photographie: Alain Fonteray
Zusammenfassung der Texte: Jutta Johanna Weiss
Übersetzung aus dem Französischen: Herbert Kaiser
© CDDB-Théâtre de Lorient