2012 · La Faculté (DE) · Honoré · Vigner

La Faculté ist der dritte Teil einer Trilogie über Jugend und Freiheit, geschrieben für die jungen Schauspieler der Académie auf der Suche nach Material, aus dem ein Babylonisches Theater entstehen kann - Schauspieler in geradezu körperlichem Kontakt mit der Diversität der Sprachen, mit der sie sich auseinandersetzen. Dabei geht es um die Frage, wie die Überwindung der Kluft, der Unterschiede menschlicher, sprachlicher künstlerischer, geschichtlicher und gesellschaftlicher Art, es schaffen könnte, Räume zu bauen, in denen der Geist und die Imagination sich frei und auf überraschende Weise bewegen können.

Nach Corneilles La Place Royale und Guantanamo von Frank Smith inszeniert Éric Vigner La Faculté, ein für die Académie geschriebenes Stück des Cinéasten und Autors Christophe Honoré. Für die Aufführung beim Festival d'Avignon im Juli 2012 hat Vigner einen bisher noch nie bespielten Ort gewählt, das Gelände des Lycée Mistral.

Das Stück spielt auf dem Campus einer französischen Universität. Eines Abends wird ein Verbrechen begangen - ein Student ermordet. Geht es um Rassismus, eine Abrechnung zwischen Gangstern, Homophobie? La Faculté stellt Fragen über sexuelle Identität, das Anders-Sein, ein so erschreckendes Anders-Sein, dass es eine Tat provoziert, die nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.

"Die Stellung, die Vigner bezieht, steht im Einklang mit der Art und Weise, wie Honoré seine Worte vom Ufer aus auf die Reise schickt und von der Flut abtreiben lässt. Nichts daran ist naturalistisch - nicht die Handlung, nicht die Kostüme: die Burschen sehen aus, als wären sie eben einem Foto Bernard Faucons entstiegen. Und nicht das Bühnenbild: eine Ebene voll feinen Sands, der von den Straßen der Stadt Besitz ergreift und ihre Bäume und Laternen in eine Mondlandschaft verwandelt, in der das Stück in eine Art oneiristischer Watte gehüllt ist. Alles ist stimmig."
Jean-Pierre Thibaudat, Rue 89

Es handelt sich um eine zeitgenössische Tragödie, die auf Themen der griechischen Tragödie zurückgreift: Ritualmord, Verbannung, Familienzwist, Geschwisterstreit, die Unmöglichkeit der Liebe, Schicksal, Geheimnisse, das Verbotene, Schuld... Ein Aufschrei der Jugend, der - geräuschlos - explodiert in der eigenartigen Atmosphäre von Nacht und Schnee - seltsam düster und aus sich heraus leuchtend zugleich.

"Die verliebte Hingerissenheit der jungen Leute in La Faculté könnte wohl für romantisch im Sinne Victor Hugos gelten, denn sie führt zum Tod. Im Grunde genommen geht es immer um das Gleiche..."
ÉRIC VIGNER

"Ahmed : Er wollte mich ganz ausziehen und ich wollte, dass er das Fenster schließt. Aber er sagte nein, weil er den Schnee sehen wollte, der in der Nacht fiel. Und er machte die Fenster auf, damit meine Haut rosa würde, ein kaltes Rosa, Magenta sagte er. (...) Ich war splitternackt und sprach zum Schnee - über etwas ganz anderes, über Reiter. Ich machte Spaß, schrie alles Mögliche in den fallenden Schnee hinaus, ganz locker. Ich war auf einem Trip, als ich zu ihm kam. Die Reiter, der Schnee, wie eine permanente Armee von Flocken - alles drehte sich, drehte sich rund und rund..." [1]

"Merkwürdigerweise lebt Ahmed allein, ohne Familie, ohne sichtbare Verbindung mit anderen. Daher seine Sehnsucht, sein Drang in die Zukunft, seine visionäre Seite. Ahmed "sieht", er ist irgendwie ein sehender Rimbaud, der künstlich geschaffene Paradiese liebt. Die Reiter überkommen ihn wie eine Vorahnung seines Todes. Ahmed weiß, er werde bald sterben. Ich denke hier an Claude Simon, an die Reiterschar in Les Géorgiques, die sich durch den Schnee kämpft. Ahmed hat die sichere Hand eines Poeten, er gibt dem Schnee Farbe. Er ist ein Maler, ein Erfinder von Bildern und Farben, der - wie Rimbaud in seinen Gedanken über das Schöpferische des Dichters - "ein Sehender [sein will], einer, der sich zum Sehenden macht. Der Dichter macht sich sehend durch eine langsame, gewaltige aber bewusst durchdachte Aufhebung von Regeln, eine 'Entregelung' aller Sinne, aller Formen der Liebe, des Leidens, des Wahnsinns. Er sucht sich selbst, entzieht seinem Körper alle Gifte und behält nur die Quintessenz zurück." [2]
Sabine Quiriconi

"Claude Simon beschreibt den Winter als ein Wirkprinzip, das auf mehreren Ebenen zum Tragen kommt: auf den Ebenen der Phänomenologie, der Imagination, der Ästhetik. Die maßlose Kälte des Winters - sie verwandelt die Landschaft in eine übernatürliche Welt, macht Tiere und Menschen zu Fabelwesen und wird selbst zu "einer Art wilder Kraft", stürzt die Menschen zurück in Epochen primitiven Lebens, und nimmt selbst 'Wolfsgestalt, die Gestalt eines tollwütigen Hundes' an." [3]
Katerine Gosselin, Acta-Fabula

"Harouna: Was sollen wir tun?
Kevin: Den Hund liegen lassen? Ihr habt kein Herz.
Yoann: Freundchen, mach dir nicht ins Hemd - entspann' dich.
Ahmed ist zu schwach um aufzustehen. Yoann schlägt ihn mit dem Helm auf den Kopf. Ahmed bricht zusammen. Yoann schlägt ein zweites, drittes Mal zul.
Yoann: Und rühr' nie meinen Bruder an, OK? Du machst keinen Scheiß mehr mit ihm, Arschficker!
" [1]

"Ein menschenleeres Fußballfeld nahe der Umfahrungsstraße. In der Ferne die Silhouette des "Iris"-Wohnblocks. Überall Schnee. Drei Schatten heben sich von der weißen Fläche ab, über etwas zu ihren Füßen gebeugt, das sich - noch ein einziges Mal - bewegt. Sie schauen auf Ahmed, den sie mit einem Bikerhelm totgeprügelt haben. Sie begraben ihn schließlich in den Schneemassen. Zeit, nach Hause zu gehen, ins Warme. In der Wohnung, wo eine schweigsame Mutter und ein Schlimmes ahnender Bruder auf sie warten, können sie sich die Hände waschen und zu Tisch setzen. Ich war schon immer fasziniert von diesem Phänomen der toxischen Familien. Ich schreibe gerne über die Wirkung, die Sinnlichkeit auf eine Familie hat - denn ich glaube, die Familie ist ein Ort, an dem Sinnlichkeit gedeiht - und über die vergiftete Atmosphäre, die Familien zu eigen ist." 
Christophe Honoré

"Jeremy : Du bist ein Teil von mir und bist unter den Schlägen meiner Brüder gestorben. Ist's das, was passiert ist? Sie haben dich totgeprügelt? Ja, so ist's. Totgeprügelt und dann vergessen. Sie könnten an deiner Leiche vorbeigehen, ohne an dich zu denken oder an das, was sie getan haben. Und sie könnten auch mich töten, denn für sie bin ich nicht anders als du. Ich bin der Passive, 'ne Tunte, 'n Chicken. Hab' ich recht? Sie haben dich nicht geschlagen, weil du ein Araber warst. War ihnen scheißegal, ob du ein Araber warst. Wenn du nur Araber wärest, würdest du wenigstens für sie existieren. Sie haben dich umgebracht, weil wir für sie nur Objekte sind, Sachen, die sie vergessen, sobald sie uns nicht mehr sehen. Uns umzubringen macht ihnen nichts aus. (...). Mir ist kalt, echt kalt." [1]

"In dieser Geschichte über Ahmeds Tod ist eigentlich Jeremy derjenige, gegen den die Familie sich stellt, eine gefährliche, man könnte sagen kannibalistische Familie. Was muss geschehen, damit man sich entschließt, die eigene Familie zu verraten, oder umgekehrt, an welchem Punkt beschließt man, sie zu schützen? Die Lokalseiten der Zeitungen sind voll von Geschichten, wie weit Menschen gehen, um ihre Familie zu verteidigen. Die mit einer Leiche im Keller leben. Mir gefällt der Gedanke, dass einer, der nicht bereit ist, mit einer Leiche im Keller zu leben, sich wohl kulturell seiner Familie entfremdet, in seiner Familie zu einem Paria wird, weil er sich eine Kultur zu eigen gemacht hat, ein Bildungsniveau erreicht hat, das für die übrigen Familienmitglieder ein verschlossenes Buch bleibt."
CHRISTOPHE HONORÉ

"Das Stück will die Tragödie in unsere Zeit transponieren, interessanterweise mit Anklängen an das antike Griechenland mit seinen erschreckenden Verbrechen und seinem offenen Umgang mit Homosexualität. Es soll alles andere als eine Parodie sein, im Gegenteil, es versucht, den Stil jener Zeit wiederzubeleben, ihn gleichzeitig mit zeitgenössischen Theaterkonventionen in Einklang zu bringen und ihm eine 'neue Form' zu geben. Wie in den Tragödien eines Racine steht da vor uns ein Held, der sich einer feindseligen Welt gegenübersieht, der einsam bleibt und hin- und hergerissen zwischen brüderlichen Gefühlen, die ihn davon abhalten, die Übeltäter der Polizei zu übergeben, und dem Wunsch, seinem toten Freund Gerechtigkeit widerfahren zu lassen."
Anastasia Patts

[1] CHRISTOPHE HONORÉ, LA FACULTÉ, Actes Sud Papiers, 2012
[2] RIMBAUD, La seconde lettre genannt "du voyant" an Paul Demeny, 1871
[3] Katerine Gosselin, Gedanken zu Les Géorgiques by Claude Simon, Kritische Essays, veröffentlicht in Acta-Fabula am 22 avril 2009, über Les GÉorgiques : une forme, un monde von Jean-Yves Laurichesse

 

© Photographie: Alain Fonteray, Jean-Louis Fernandez
Zusammenfassung der Texte: Jutta Johanna Weiss
Übersetzung aus dem Französischen: Herbert Kaiser
© CDDB-Théâtre de Lorient