2011 · L'Art dans les chapelles · 20ème édition

Das Festival L'Art dans les chapelles (Kunst in den Kapellen) lädt seit zwanzig Jahren jeden Sommer bildende Künstler ein, mit einem Kulturerbe von außergewöhnlichem Reichtum und großer Diversität in einen Dialog einzutreten: mit den zahlreichen Kapellen des Blavet-Tales in der Region Pontivy im Morbihan.  

Unter den ausgewählten Kapellen beherbergte im Jahr 2011 die Kapelle Notre-Dame du Cloître bei Quistinic erstmals die Installation eines zeitgenössischen Künstlers und Theatermachers: Éric Vigner, bildender Künstler, Regisseur und Direktor des CDDB - Théâtre de Lorient, Centre Dramatique National.

"Die schmerzliche und dramatische Geschichte dieses Ortes während des Krieges 1939-45 war es, die mich angesprochen hat”, erklärt Éric Vigner bei der Vorstellung seines Werks aus Polykarbonat, einem leichten aber äußerst beeindruckenden Materials, das das Licht und die Farben der Umgebung einfängt und wiedergibt. “Bei meinem ersten Besuch sah ich ein Zeichen, hatte ich eine Vision - es war am 24. Dezember um etwa 5 Uhr nachmittags. Das Licht war schwach, düster, es war kalt, und plötzlich spielte mein Handy eine Bachsche Suite. ‘Die Engel’ der Fenster waren großartig."

Im Eingangsbereich des Kirchenschiffs aufgestellt, verändert sich das Kunstwerk mit dem Licht, das durch die beiden Tore hereinströmt. Ein monumentales Triptychon mit 14 in das Material eingebetteten Formen, 14 “Fenstern”, ein Widerhall der 14 Seelen der Résistance-Mitglieder, die hier ihr Leben verloren. Anlässlich der Vernissage betonte Éric Vigner dass er keinen Gedenkstein setzen wollte; vielmehr ginge es ihm darum, die Seelen, die an diesem Orte hausten, zu befreien: eine Erinnerung an die 14 Widerstandskämpfer, die sich hier aufhielten, voller Hoffnung in dieser als geheimes Feldlazarett dienenden Kapelle, ehe sie abgeschlachtet wurden.

Befreiung der gefangenen Seelen [1]

"Ich begann meine Arbeit mit dem Fenster über dem Altar, einem dreiteiligen Fenster aus weißem Glas. Es sieht wie ein Engel mit Flügeln aus. Ein einfaches Fenster, die Arbeit eines Handwerkers, mit Zeichnungen, die perspektivisch sein wollen, teils zwei- und teils dreidimensional. Dieses Fenster schützt gewissermaßen die Kapelle. Ich ging von dem Motiv dieses Glasfensters aus. Die letzte plastische Arbeit, die ich gemacht hatte, war das Bühnenbild für Shakespeare’s Othello. Das wesentliche Element dabei war Othellos ‘magisches’ Taschentuch - ein riesiges Taschentuch, 8 mal 8 Meter groß. Mein Interesse galt damals dem Wechsel von Schatten und Licht, als ich dieses "gestickte" Taschentuch entwarf, das das Licht durch eine Vielzahl von Mustern filtern ließ. Othello ist eine Geschichte, in der es um Fremdheit geht, um die Konfrontation mit dem Anders-Sein, und darin sah ich eine Parallele zur Geschichte der Kapelle, nämlich im Aufeinandertreffen der französischen Widerstandskämpfer und der Fremden im tragischen Kontext des Krieges. Für die Kapelle stellte ich mir eine Halbsonne wie einen Flügelaltar vor. Ich verwendete Polykarbonat, ein Bühnenmaterial, das gleichzeitig durchscheinend und tragfähig ist. In dieses Material bettete ich 14 Formen ein, zu denen mich Zeichnungen für Paul Klee's Haus inspiriert hatten, mit verschiedenen Schattierungen von weiß bis schwarz. Für mich muss ein Kunstwerk offen sein, nicht zu bedeutungsbeladen. Der Betrachter sollte, auch wenn er die Geschichte dieser Kapelle nicht kennt, mit dem Kunstwerk selbst in Dialog treten. Es ist ein Werk, das mit dem Tageslicht spielt, ohne jegliche künstliche Beleuchtung. Seine “Inszenierung” besteht einzig und allein im Aufstellungsort, den Dimensionen, den 14 eingebetteten Formen und dem Spiel des sich im Lauf des Tages verändernden Lichts.”
ÉRIC VIGNER

Bei Éric Vigners Arbeiten geht es stets um die “Realität” der gewählten Örtlichkeit, ob Fabrikshalle, Kino, Kreuzgang, Museum, Gerichtssaal oder Theater im italienischen Stil, in einem dialektischen Dialog mit der Örtlichkeit und oftmals mit Literatur. Er versucht, den Blick und die Körperhaltung des Zuschauers so zu verändern, dass er zum Hauptdarsteller des Stücks wird, mit dem - unausgesprochenen - Ziel, ihn sanft dazu zu bringen, seiner eigenen intimsten Geschichte nachzuspüren und dadurch die Erfahrung seiner eigenen Existenz zu machen.

[1] PAUL CLAUDEL, LE SOULIER DE SATIN (Der seidene Schuh)

© Photographie: Jutta Johanna Weiss
Zusammenfassung der Texte: Jutta Johanna Weiss
Übersetzung aus dem Französischen: Herbert Kaiser
© CDDB-Théâtre de Lorient